«Jeden Monat kann ich 1000 Franken auf die hohe Kante legen», sagt Frank Steinthal*. Seit drei Monaten arbeitet der 24-jährige Deutsche als Rezeptionist in einem Hotel im Zürcher Oberland. «Alles ist hier so wunderbar organisiert, und man verdient viel besser.» 3700 Franken beträgt sein Lohn nach Abzug der Steuern. Das entspricht gerade mal dem Mindestlohn der Branche nach Gesamtarbeitsvertrag.

In Deutschland arbeitete der ausgebildete Hotelfachmann in einem Fünfsternehotel. Er absolvierte eine Weiterbildung zum Revenue Manager, war in dieser Position mitverantwortlich für den Geschäftserfolg. In Deutschland verdiente er damit 1500 Euro. «Im Vergleich dazu ist mein Schweizer Lohn ein Riesensprung.»

Ihm ist bewusst, dass er gemessen an Schweizer Verhältnissen zu den Geringverdienern zählt, trotz guter Ausbildung. Doch das stört ihn nicht.

12-Stunden-Tage sind normal

Steinthal teilt sich mit seiner Freundin Stefanie Waldmeister* eine Zweizimmerwohnung. Die beiden sind zusammen in die Schweiz gezogen. Sie arbeitet als Köchin in einem Restaurant. Ihre Arbeitszeiten richten sich nach den Essgewohnheiten der Gäste. Am Nachmittag hat sie von 14 bis 17 Uhr Zimmerstunde. «Man geht frühmorgens aus dem Haus, kommt spätabends heim. Das ist anstrengend.» Es sei nicht unüblich, die Zimmerstunde im Betrieb zu verbringen, vor allem im Winter, wenn es draussen kalt sei. «Man hockt in die Kantine, isst und geht zurück an die Arbeit.»

«Alles ist hier so wunderbar organisiert. Und man verdient viel besser.»

Frank Steinthal*, Rezeptionist aus Deutschland

Mitarbeitende wie Steinthal und Waldmeister sind der Traum eines jeden Gastrounternehmers: gut ausgebildet, fleissig und genügsam. Das Angebot an solchen Fachkräften ist gross, die Stellen in der Schweiz besonders bei Deutschen und Österreichern beliebt. Und die Personenfreizügigkeit erlaubt es Arbeitgebern, in allen EU-Ländern zu rekrutieren.

Bruno Schöpfer hat genau das vor. 600 von insgesamt 800 Mitarbeitenden werde er im Ausland rekrutieren, verkündete der Chefmanager des im Endausbau befindlichen Luxusresorts auf dem Bürgenstock in der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens SRF. Die Welle der Kritik, die ihm darauf entgegenbrandete, dürfte den gebürtigen Entlebucher überrascht haben. Seine Absicht hatte er bereits im Mai in der NZZ geäussert. Verbunden mit der Ankündigung, eine Hotelfachhochschule auf den Bürgenstock zu holen und so das Personalproblem zu entschärfen. «Wir finden in der Schweiz die Leute, die wir brauchen, schlicht nicht» – trotz grosser Bemühungen vor allem in der Region. Sie hätten Hotelfachschulen besucht und Events veranstaltet. Doch das habe nicht den gewünschten Erfolg gebracht.

Lobby

So soll die Lobby des Bürgenstock-Hotels aussehen, das 2017 eröffnet wird.

Quelle: Bürgenstock Hotels AG


Die Rekrutierungspolitik des Resorts wurde zum Politikum. Der Luzerner SP-Kantonsrat David Roth forderte die Sistierung der 625'000 Franken, die der Kanton für ein neues Shuttleschiff zwischen Luzern und Bürgenstock bereitstellen will. Bevor das Geld fliesse, müsse das Bürgenstock-Management aufzeigen, wie es möglichst viele inländische Arbeitskräfte anstellen wolle. In Nidwalden erkundigte sich der SP-Landrat Dino Tsakmaklis beim Regierungsrat, welche Massnahmen getroffen worden seien, um kantonale und regionale Arbeitslose einzustellen.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist paradox. Es gibt viele Arbeitslose und zugleich eine grosse Nachfrage nach Arbeitskräften. Das liegt daran, dass im Gastrobereich die Einstiegshürde sehr tief ist und entsprechend viele niedrig Qualifizierte einen Job suchen. Im vergangenen November meldete das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco 18'000 Stellensuchende im Gastgewerbe. Zwei von drei mit einem ausländischen Pass. Die eine Hälfte der ausländischen Arbeitslosen kommt aus dem EU-Raum, die andere aus Drittstaaten. Die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie im Schweizer Durchschnitt. Das Seco kommt deshalb zum Schluss, dass die Berufe im Gastgewerbe und in der Hauswirtschaft keinen erhöhten Fachkräftebedarf aufweisen.

«Ohne Ausländer müsste ich schliessen»

Das bringt Renata Bäggli in Rage. Sie leitet eine Stellenvermittlung für Hotellerie und Gastronomie in Wilen SZ und ist seit 26 Jahren im Geschäft. Ihre Erfahrung widerspricht der Seco-Einschätzung komplett. «Ohne Ausländer müsste ich mein Geschäft schliessen. In der Schweiz gibt es zu wenig gute Leute. Wenn ich einen guten Koch und eine gelernte Serviceangestellte aus der Schweiz vermittle, dann können sie aus 20 Stellen auswählen.»

So etwa Vreni Pfamatter*. Die 35-jährige Zürcherin sucht für die Wintersaison eine Stelle in einem Tourismusgebiet. Sie kann es sich leisten, wählerisch zu sein. Alles muss passen: der Ort, das Team, der Lohn. «Man ist schon sehr gefragt. Das gibt mir ein gutes Gefühl», sagt sie.

Pfamatters Werdegang ist typisch für viele Schweizer, die ihren beruflichen Einstieg im Gastgewerbe finden. Nach einer Lehre als Servicefachangestellte arbeitete sie drei Jahre in verschiedenen Gastrobetrieben. Dann verliebte sie sich. Die Arbeit abends, am Wochenende und an den Feiertagen wurde zur Belastung für die Beziehung. Sie absolvierte eine Weiterbildung an der Handelsschule und wechselte ins Telemarketing.

«Ein guter Koch aus der Schweiz kann aus 20 Jobs auswählen.»

Renata Bäggli, Stellenvermittlerin

Der Bürojob brachte ihr ein besseres Salär, regelmässige Arbeitszeiten und die Möglichkeit, die Freizeit mit ihrem Partner zu verbringen. Jetzt hat sie die Sehnsucht nach der weiten Welt gepackt. Sie ist zurück von einer mehrmonatigen Reise und will im Frühling wieder los. Die Zeit bis dahin möchte sie im Service überbrücken. «Mir gefällt, dass man im Gastgewerbe mit vielen Menschen zu tun hat. Aber es ist ein Knochenjob», sagt sie.

«Viele Jugendliche sind sich bei der Wahl der Lehrstelle nicht recht bewusst, was das Arbeiten in der Gastronomie bedeutet», erklärt Manuel Baur. Der Restaurantleiter in der Sonne in Küsnacht ZH war dieses Jahr nominiert für den Preis «Bester Lehrmeister», ausgerichtet vom Branchenverband Gastrosuisse. «Viele Lernende sehen die Lehre in einem Gastronomieberuf eher als eine Art Absicherung, um sich später weiterzuentwickeln.»

Mehr als ein Drittel steigt aus

Hinzu kommt: Mehr als ein Drittel der Lehrverträge in der Gastronomie wird vorzeitig aufgelöst. Der Durchschnitt über alle Branchen liegt bei einem Viertel. Schwierigkeiten mit den Ausbildnern, mangelnde Ausbildung und Überforderung der Lernenden sind gemäss einer Gastrosuisse-Umfrage Hauptgründe für den Lehrabbruch. Und nach der Ausbildung hält es Köche und Serviceangestellte nicht lange im Beruf: Nach drei Jahren hat jeder Zweite die Branche gewechselt.

Nicht alle bringen so viel Enthusiasmus mit wie Andrea Hugi*. Die junge Schweizerin teilt sich mit Frank Steinthal die Arbeit an der Rezeption. Hugis Urteil über ihre Landsleute ist nicht eben schmeichelhaft: «Im Service arbeiten nur Deutsche und Österreicher. Die Schweizer sind sich zu schade dafür oder auch einfach faul. Sie stören sich an den unregelmässigen Arbeitszeiten und finden, sie würden zu wenig verdienen.»

«Die Schweizer sind sich zu schade für diesen Beruf – oder einfach zu faul.»

Andrea Hugi*, Rezeptionistin aus der Schweiz

Für Timo Albiez ist dieses Urteil zu hart. Der stellvertretende Direktor der Hotelfachschule in Luzern sieht vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht: «Die Branche gilt bei Lernenden als unsexy. Arbeitszeitmodelle mit Zimmerstunden schrecken ab. Gerade für die Generation Y ist das soziale Umfeld sehr wichtig.» Zudem seien viele Löhne tief. Knapper formuliert es Mauro Moretto von der Gewerkschaft Unia: «Die Arbeitsbedingungen in der Gastrobanche sind nicht konkurrenzfähig.»

Eine Kritik, die Arbeitgeber nicht teilen: «Im Gastgewerbe gilt der Landesgesamtarbeitsvertrag. Er wurde von den Sozialpartnern vereinbart und garantiert faire, marktgerechte Anstellungsbedingungen gemäss den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Branche», heisst es dazu bei Gastrosuisse.

Im Gastgewerbe gibts den tiefsten Lohn

Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die aktuelle Lohnstrukturerhebung des Bundes weist für Gastgewerbe und Gastronomie den tiefsten Bruttolohn aller Branchen auf. Ein Grund dafür ist die Ertragslage: Mit einem Restaurant oder einem Hotel Geld zu verdienen, ist schwierig. Jeder fünfte Betrieb schreibt rote Zahlen. Noch dramatischer präsentiert sich die Situation bei den Restaurants und Hotels, bei denen der Unternehmer sich einen Lohn auszahlt. Hier schlossen zwei von drei Betrieben im Jahr 2014 mit einem Verlust ab.

Die Leitung des Bürgenstocks hat auf den Druck reagiert. Man gehe jetzt davon aus, dass nur 70 Prozent Ausländer und 30 Prozent Schweizer beschäftigt sein werden.


*Namen geändert