Geschichten aus der Nachbarschaft

Nachbarinnen und Nachbarn erleichtern unser Leben, helfen, wenn das Salz ausgeht, tragen schwere Einkaufstaschen die Treppen hoch. Oder aber sie machen uns die Hölle heiss, beklagen sich über ein nicht ordnungsgemäss angebrachtes Schuhgestell, schimpfen über lautes Kinderlachen, petzen bei der Verwaltung. 

Nachbarschaft ist ein soziales Phänomen, das zwar alle kennen, aber ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Über die Feiertage erzählen Angehörige der Beobachter-Redaktion, was sie mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn erlebt haben.

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«Schwarze Abfallsäcke gehören nicht neben den Container, nur Zürisäcke. Du arme Sau Kuh.» «Wer hat den Tumbler schon wieder nicht gereinigt? Schwein.» «Wer hat im Lift geraucht? Du fertiges Arschloch.» Mein Nachbar ist 81, dünnhäutig und ohne viel Ablenkung im Alltag. Als Abwart der Liegenschaft, in der ich seit 15 Jahren als seine direkte Nachbarin wohne, hat er schon alle Bewohnerinnen und Bewohner zusammengestaucht. Rabiat mündlich oder auf Post-its im Lift, an der Waschmaschine, anklagend und mit vernichtend direkter Wortwahl an die Haustüre geklebt. In schöner Schnüerlischrift, aber triefend vor Wut.

Dass er auch eine sanfte Seite hat, wird für die gemeinen Bewohner des 70er-Jahre-Baus in Zürich in der Adventszeit augenscheinlich. Dann packt Hans seine Spraydose aus und besprüht die Tür im Kreis 4 mit Kunstschnee (Post-it: «Fröhliche Weihnachten»).

Hans sitzt den halben Tag und bei jedem Wetter auf einem billigen Plastikstuhl auf unserem bedachten Laubendurchgang und beobachtet das Geschehen auf der Strasse. Der Hausbesitzer vis-à-vis nervt ihn, seit Hans vor 40 Jahren hier eingezogen ist («Dieser Erbschleicher sieht auch immer kränker aus!»). Die Besitzer des asiatischen Restaurants im Erdgeschoss bringen ihn noch mehr in Rage («Die verfüttern den Leuten Hundefleisch»), und die Nachbarin im obersten Stock ist «von allen guten Geistern verlassen».

Hans hat kaum Bekannte und keine Familie. Freunde und Kollegen gab es womöglich nie, seine Ex-Frau und deren Kinder «haben mich bestohlen, die sollen verrecken!» Seine Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter sind die Angestellten der Swisscom, des Triemlispitals, die Apothekerinnen an der Langstrasse, die Beamtinnen und Beamten in Gremien der Stadt, des Kantons und des Bundes. Hans ruft sie alle an und löchert sie mit Fragen. Wenn er aus Versehen das Handy auf stumm gestellt hat und nichts mehr hört, wenn die dritte Bauchoperation innert zwei Monaten ansteht und er vier Wochen vorher eine Wegbeschreibung für den Termin um 9.30 Uhr braucht, wenn die Ergänzungsleistung «falsch abgerechnet» wurde.

Seine weiche Seite

Und dann gibt es noch mich. Ich höre Hans’ schleppende Schritte und die eine Krücke, die er zum Gehen braucht, bevor es klingelt. «Du, Jenny, hast du schon gesehen, wie viele Flieger es heute am Himmel hat?» Hans hat mir nach über einem Jahrzehnt das Du angeboten, die Pandemie hat unseren Kontakt intensiviert und persönlicher werden lassen. Ich arbeite von zu Hause, was Hans nicht in den Kopf geht, weshalb er mir die Frage, was «Homeoffice» und «online» bedeute, in zwei Jahren unzählige Male stellt.

Dank diesem «Homeoffice» bin ich häufiger zu Hause, wenn er klingelt. Unser Smalltalk weitet sich auf mindestens zwei Einheiten pro Tag aus. Die Konversationen sind einseitig. Er erzählt, ich höre zu. Und sage irgendwann: «Gut, ich muss jetzt wieder.» Aber Hans mag mich, und ich mag ihn. Er verzeiht mir, dass ich nie an meinem Waschtag wasche, und wenn er merkt, dass ich der Grund bin für ein ungehaltenes Post-it und nicht der ungeliebte Mieter aus dem dritten Stock, entfernt er es schnell.

Und ich verzeihe ihm seine Launen, versuche seine aufgebrachten Tiraden zu brechen, entdecke dabei immer mehr Liebenswertes. Im Shutdown bringt mir Hans eine Flasche Eierlikör vorbei, sein Lieblingsgetränk, so harren wir auf unserem Laubendurchgang der Dinge. Hans hat nie Corona («Weil ich keine Leute einlade wie du!»), seine Gesundheit wird trotzdem schleichend schlechter. Eines Tages sitzt er so bleich auf seinem Plastikstuhl, dass ich ihm eine Bouillon koche. «Nach dieser Bouillon ging es mir plötzlich wieder richtig gut», erzählt er. So kommt es, dass ich immer häufiger für ihn koche, selbst wenn er gar nicht bleich ist. Ich bringe die Suppen irgendwann direkt in seine Stube, in welcher der Teppich seit zehn Jahren, wie Hans stolz erzählt, «nicht mehr gesogen wurde». 

Plötzlich ist er weg

Diesen Sommer wache ich eines Morgens mit 18 Anrufen in Abwesenheit auf. Als ich zu Hans hinübereile, ist bereits der Notfall da, die Verwalterin, die Spitex. «Jenny, ich bin in der Nacht blöd gestürzt!» Ein Spitalaufenthalt ist nichts Aussergewöhnliches für Hans. Aussergewöhnlich ist, dass ich ihn an diesem Tag als Nachbarn verliere. Hans wird ins Alterszentrum verlegt. Da sonst niemand von seinem Sturz weiss, rutsche ich unverhofft in die Rolle seiner nächsten Angehörigen. Ich kündige seine Wohnung, koordiniere die Räumung, zügle das Nötigste zu ihm ins 15 Minuten entfernte Alterszentrum («Den Kunstschnee kannst du behalten, den brauche ich nicht mehr») und besuche ihn fortan wöchentlich.

Als einzige Person auf der Liste der Leute, die informiert werden, wenn es etwas zu informieren gibt, bekomme ich inzwischen Einladungen vom Alterszentrum für den «Bingo-Nachmittag» und den «Weihnachtszauber», und seit Hans Facetime entdeckt hat, sehe ich ihn, meist verwackelt und aus wenig vorteilhafter Perspektive, wieder mehrmals pro Tag. Seinen Plastikstuhl habe ich ihm auf seinen neuen Balkon gestellt. Es habe wieder mehr Flieger am Himmel, berichtet er.

Welcher Nachbarschaftstyp sind Sie?

Die Distanzierten (47 Prozent der Bevölkerung)

Ihnen sind Abstand, Diskretion und Unabhängigkeit wichtig, sie möchten weder gestört werden noch jemandem zurLast fallen. Im Notfall sind sie aber zur Stelle. Und ab und zu schätzen sie auch zweckorientierte Treffen.

Die Inspirationssuchenden (30 Prozent)

Für sie stehen Toleranz und anregende Begegnungen im Vordergrund. Inspirationssuchende schätzen kollektive, sinnerfüllte Aktionen und Vielfalt und suchen den Blick überden eigenen Tellerrand hinaus.

Die Beziehungspflegerinnen und -pfleger (14 Prozent)

Sie wünschen sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis in einer homogenen, harmonischen Nachbarschaft. Sie legen Wert auf enge Kontakte, Gemeinschaftsaktivitäten und gegenseitige Unterstützung im Alltag.

Die Wertorientierten (9 Prozent)

Sie möchten unter Leuten leben, die ähnliche Ansichten teilen. Statt enger Beziehungen wünschen sich Wertorientierte respektvolle Distanz und einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie sind hilfsbereit. Im Alltag reicht ihnen ein gelegentlicher Austausch im Treppenhaus.

Quelle: «Hallo Nachbar:in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, August 2022. Um die Studie einzusehen, hier klicken.