Geschichten aus der Nachbarschaft

Nachbarinnen und Nachbarn erleichtern unser Leben, helfen, wenn das Salz ausgeht, tragen schwere Einkaufstaschen die Treppen hoch. Oder aber sie machen uns die Hölle heiss, beklagen sich über ein nicht ordnungsgemäss angebrachtes Schuhgestell, schimpfen über lautes Kinderlachen, petzen bei der Verwaltung. 

Nachbarschaft ist ein soziales Phänomen, das zwar alle kennen, aber ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Über die Feiertage erzählen Angehörige der Beobachter-Redaktion, was sie mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn erlebt haben.

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Erst flattert es, dann knallt es dumpf, dann ist es wieder still. Ich lasse die Zügelkartons fallen und stürze in die Küche. Da liegt er am Boden: ein junger Spatz. Er blinzelt benommen und bewegt sich fast nicht mehr – er ist wohl gegen die Scheibe geflogen und hat sich ordentlich den Schädel gestossen. Ich bin gerade erst eingezogen, in eine uralte und zu teure Wohnung, aber mitten in Zürich und im fünften Stock. Und Vögel mag ich auch – aber nur von weitem, angefasst habe ich noch keinen.

Panik steigt in mir hoch. Wie meistens, wenn das passiert, rufe ich meine Mutter – trotz meines fortgeschrittenen Alters. Ihre Diagnose: Eine Zeitung über den Vogel legen, Schaufel drunterschieben und rausschmeissen, aus dem Fenster. Ganz einfach geht das, sagt sie. Von wegen: Der Vogel schlägt energisch um sich, weigert sich, auf die Schaufel zu sitzen. Ich bin verzweifelt – ein anderer Mensch muss helfen.

Ich läute bei der Wohnung neben mir, ein Mann macht auf. Für langes Vorstellen bleibt keine Zeit, Jungvogel, lamentiere ich, Hirnerschütterung, in der Küche, Hilfe! Der Mann bleibt ganz ruhig, er kennt sich mit Tieren aus, sagt er. Er nimmt das Vögelchen in die Hand und mit in seine Wohnung, setzt es aufs Bücherregal, neben dem offenen Fenster. So kann sich das Tier ausruhen und weiterziehen, wenn es wieder fit ist. 

Seinen Namen kann ich mir nicht merken in der Aufregung. Zum Glück steht er auf dem Türschild: Lars. Seither fahren wir immer zusammen in dem winzigen Lift, wenn wir uns antreffen.

Welcher Nachbarschaftstyp sind Sie?

Die Distanzierten (47 Prozent der Bevölkerung)

Ihnen sind Abstand, Diskretion und Unabhängigkeit wichtig, sie möchten weder gestört werden noch jemandem zurLast fallen. Im Notfall sind sie aber zur Stelle. Und ab und zu schätzen sie auch zweckorientierte Treffen.

Die Inspirationssuchenden (30 Prozent)

Für sie stehen Toleranz und anregende Begegnungen im Vordergrund. Inspirationssuchende schätzen kollektive, sinnerfüllte Aktionen und Vielfalt und suchen den Blick überden eigenen Tellerrand hinaus.

Die Beziehungspflegerinnen und -pfleger (14 Prozent)

Sie wünschen sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis in einer homogenen, harmonischen Nachbarschaft. Sie legen Wert auf enge Kontakte, Gemeinschaftsaktivitäten und gegenseitige Unterstützung im Alltag.

Die Wertorientierten (9 Prozent)

Sie möchten unter Leuten leben, die ähnliche Ansichten teilen. Statt enger Beziehungen wünschen sich Wertorientierte respektvolle Distanz und einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie sind hilfsbereit. Im Alltag reicht ihnen ein gelegentlicher Austausch im Treppenhaus.

Quelle: «Hallo Nachbar:in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, August 2022. Um die Studie einzusehen, hier klicken.