Nicht einmal die SVP stellte sich quer. Alle Parteien von rechts bis links waren sich gestern im Stadtparlament einig: Wer im Namen der Stadt Zürich vor 1981 «versorgt» wurde, soll Anrecht auf eine symbolische Einmalzahlung erhalten. Das ist eine nationale Premiere, noch nie hat eine Schweizer Gemeinde ihre eigenen Opfer mit einer Zahlung unterstützt. Bis heute hat nur der Bund gezahlt.

25’000 Franken sollen die Zürcher Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erhalten. Dafür, dass Verantwortliche der Stadt sie in Heimen weggesperrt oder zur Arbeit für Emil Bührle gezwungen haben. 

Erstaunlich war bei der Vorlage im Zürcher Stadtparlament: Widerstand gab es keinen. Alle Parteien befürworteten die Vorlage in ihren Stellungnahmen. Die FDP stellte das Geschäft vor und erhielt Beifall von rechts: «Auch für die SVP ist das Unrecht, das den betroffenen Personen widerfahren ist, als schwer verträglich anzuschauen. Und kaum wiedergutzumachen. Es sind unvorstellbare Gräueltaten begangen worden, die auf keinste Art und Weise vertretbar sind», sagte SVP-Politiker Sebastian Zopfi im Namen seiner Fraktion. 

Dieser Ton ist neu für die SVP: Als der Nationalrat vor einigen Jahren über eine Geldzahlung des Bundes an die Opfer diskutierte, stiess das auf Widerstand. Der ehemalige SVP-Bundesratskandidat Hans-Ueli Vogt sagte im Namen seiner Partei: «Moralisch stehen wir nicht in der Schuld derer, denen unsere Vorfahren Unrecht angetan haben.» Doch diese Zeiten sind vorbei – zumindest in Zürich.

Die Stadt rechnet hier mit rund 320 Betroffenen. Sie können voraussichtlich ab Juni einen Antrag stellen, um den Zürcher Solidaritätsbeitrag einzufordern. Rund acht Millionen Franken budgetiert die Stadt dafür. Der Ausgabenposten stiess auf keinen Widerstand. SVP-Sprecher Zopfi sagte: «Die betroffenen Personen haben in der Vergangenheit, in der Gegenwart und wahrscheinlich noch in der Zukunft mit einem schweren Schicksal zu kämpfen. Mit diesem Geschäft können wir ein kleines Zeichen setzen. Nicht um das Unrecht wiedergutzumachen, aber um einen kleinen Solidaritätsbeitrag zu leisten.»

Zu Emil Bührle wird geschwiegen 

Den Namen von Emil Bührle nahm im Rat niemand in den Mund. Obwohl aus der Weisung der Stadtregierung hervorgeht, dass die Millionen nur wegen medialen Drucks fliessen. Nach Recherchen des Beobachters zur Zwangsarbeit für den berühmt-berüchtigten Industriellen Emil Bührle hatte die Zürcher SP-Politikerin Christine Seidler einen entsprechenden Vorstoss im Stadtparlament gemacht. Sie übte hinter den Kulissen Druck aus, dass die Stadt schnell Geld zahlt und nicht auf die historische Aufarbeitung wartet. Zürich lässt derzeit die Zusammenarbeit der städtischen Fürsorge mit Industriellen wie Emil Bührle untersuchen. Die Studie wird voraussichtlich erst 2026 veröffentlicht werden. 

Die Betroffene Elfriede Steiger freut sich über den Entscheid des Stadtparlaments. Sie sass auf der Zuschauertribüne. «Zürich hat sich bravourös dem Thema gestellt», sagte sie nach den Voten im Rat. Steiger war in den 1950er-Jahren von der Stadt Zürich in das Fabrikheim von Emil Bührle eingewiesen worden, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste (siehe «Zwangsarbeit für Emil Bührle Ein weiteres dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte Zwangsarbeit für Emil Bührle »).

SP-Gemeinderat Marcel Tobler sagte: «Aus heutiger Sicht müssen wir uns fragen, wie die Stadt zulassen konnte, dass Arbeitskräfte quasi versklavt worden sind.» Der Bund habe der Schweiz eine grosse Last abgenommen, als er den Opfern einen Bundessolidaritätsbeitrag von 25’000 Franken gezahlt habe. Das war vor sechs Jahren. «Man hätte das Kapitel ad acta legen können. Aber das wäre zu bequem. Das Unrecht, das den Betroffenen damals aus fürsorgerischen Gründen angetan worden ist, hat nicht der Bund allein zu verantworten. Für das Sozialwesen sind Behörden, Amtsstellen, Heime und das Personal von Gemeinden und Kantonen zuständig. Damals wie heute. Wir als Gemeinde müssen die Grösse haben, in den Spiegel zu schauen und zu benennen, wo wir für Unrecht mitverantwortlich waren.» 

Ronny Siev von der GLP sagte: «Was da passiert ist vor 1981, ist unglaublich. Man kann es nicht glauben, dass in der Stadt Zürich, in der Schweiz, solche Sachen vorgefallen sind.» Er nahm bei seinem Votum im Rat die Schweizer Regionalpolitik in die Pflicht: «Die anderen Gemeinden, die anderen Städte, die anderen Kantone sollten jetzt nachfolgen, damit alle Opfer gleich unterstützt werden.» 

So erfreulich der Zürcher Entscheid ist: Er schafft neue Ungerechtigkeiten. Zürcher Opfer erhalten nun mehr Geld als alle anderen Opfer in der Schweiz. Das kann sich nur ändern, wenn das Beispiel Zürichs Schule macht.

Zieht der Kanton Schaffhausen im April nach?

Im Kanton Schaffhausen ist die Diskussion dazu bereits im Gang. Der Regierungsrat muss bis im April Stellung nehmen, ob er sich eine zusätzliche finanzielle Unterstützung der Schaffhauser Opfer vorstellen kann. «Nach wie vor leben viele dieser Menschen in prekären Verhältnissen», begründete SP-Kantonsrätin Linda De Ventura ihre Anfrage an die Regierung. «Viele haben aufgrund der Gewalt, des Missbrauchs und der Ungerechtigkeit, die sie erlebt haben, zusätzlich mit psychischen und physischen Problemen zu kämpfen.» 

Der Bund habe zwar einen Solidaritätsbeitrag gezahlt. «Es war jedoch nicht nur der Bund, der Schuld auf sich geladen hat. Auch die Kantone und die Gemeinden stehen für dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte in der Verantwortung.» Im Kanton Schaffhausen wurde das unmenschliche Zwangssystem von verschiedenen lokalen Behörden am Laufen gehalten, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt. Die Politikerin fragt deshalb: «Ist der Regierungsrat bereit, die rechtlichen Voraussetzungen für einen kantonalen Solidaritätsbeitrag für den Kanton Schaffhausen zu schaffen?»

Lehnt die Regierung das Ansinnen ab, wird Linda De Ventura mit einer Motion nachdoppeln. «Mitglieder von FDP und GLP haben bereits zugesagt, dass sie die Motion unterschreiben würden, wenn es nötig werden wird», sagt sie gegenüber dem Beobachter. Die Motion liegt im Entwurf bereits vor. Darin fordert sie, dass Schaffhausen dem Beispiel Zürichs folgt. Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen soll unbürokratisch ein kantonaler Solidaritätsbeitrag ausgezahlt werden. Der Beobachter schätzt die Kosten dafür auf rund 2,2 Millionen Franken. Das legt die aktuelle Statistik des Bundes zum eidgenössischen Solidaritätsbeitrag nahe, die für den Kanton Schaffhausen rund 100 Gesuchstellende ausweist. 

Linda De Ventura hofft, dass Gemeinden und Kantone in der ganzen Schweiz sich jetzt ihrer Verantwortung stellen. «Ich hoffe sehr, dass der Kanton Schaffhausen einen kantonalen Solidaritätsbeitrag schaffen wird und sich danach noch weitere Kantone und Gemeinden anschliessen werden.»

60 Städte diskutieren über einen Solidaritätsbeitrag

Demnächst werden sich rund 60 Städte von Aarau bis Zug mit dem Thema befassen müssen. Sie alle sind in der Städteinitiative Sozialpolitik organisiert. Und diese hat das Thema «kommunaler Solidaritätsbeitrag» auf die Traktandenliste gesetzt. Deren Präsident Nicolas Galladé, Stadtrat aus Winterthur, sagt: «Die Städteinitiative Sozialpolitik wird sich an ihrer nächsten Vorstandssitzung Ende März zum Thema austauschen.»

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