Die Schweiz gibt offiziell zu, dass sie ganze Biografien zerstört hat. Wörtlich heisst es im Wiedergutmachungsgesetz, «dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat».

Staatliche Stellen haben mindestens 10'226 Frauen und Männer an Bauern verdingt und in Anstalten gesperrt. In vielen Fällen waren Kinder davon betroffen. Ihre Eltern hatten nicht einmal die Chance, sich vor einem Gericht gegen diese Willkürentscheide zu wehren.

25'000 Franken zahlt ihnen der Bund für das Unrecht, das sich offiziell «auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat».

Das ist noch gar nicht so lange her. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen sind bis in das Jahr 1980 angeordnet und durchgesetzt worden. Inzwischen haben sich zwei Bundesrätinnen für diese menschenrechtswidrige Praxis entschuldigt.

Es fliesst nur sehr wenig Geld

Doch grosszügig zeigt sich die Schweiz mit ihren Staatsopfern nicht. Der Bund zahlt jedem Opfer für das lebensprägende Leid einen sogenannten Solidaritätsbeitrag in Höhe von 25'000 Franken.

Die schöne Geste hat einen Haken: Es ist eine Zahlung per Saldo aller Ansprüche. Der Staat kann für das Unrecht nie mehr belangt werden. «Es bestehen keine weitergehenden Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung», steht im Gesetz.

50'000 Franken sollen Stadtzürcher Opfer insgesamt erhalten, weil die Stadt Zürich die Zahlung des Bundes verdoppelt.

Der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen war dieser Solidaritätsbeitrag zu klein. Das Gremium, das die Geschichte wissenschaftlich aufgearbeitet hat, empfahl dem Bundesrat in seinem Schlussbericht, den Opfern eine «spezielle lebenslange Rente» auszuzahlen. Die Empfehlung wurde nie umgesetzt.

Ungerechtigkeit bleibt

Rund 320 Opfer sollen in den nächsten Monaten trotzdem noch etwas Geld erhalten. Nicht etwa, weil sie besonders schwer geschädigt wurden, sondern wegen ihres Wohnortes: Sie lebten zum Zeitpunkt, als die Zwangsmassnahmen verhängt wurden, in der Stadt Zürich.

Und die Stadtregierung will ab diesem Jahr den Solidaritätsbeitrag des Bundes mit städtischen Mitteln auf 50'000 Franken verdoppeln. Die Zürcher Opfer erhalten also 25'000 Franken mehr als alle anderen Betroffenen. 

Der Entscheid zu dieser Zahlung kam nicht ganz freiwillig zustande. Recherchen des Beobachters über die Zwangsarbeit von «Versorgten» für Emil Bührle Auszahlung nach Beobachter-Recherche Geld für Bührle-Opfer haben die Stadt politisch unter Druck gesetzt.

Politikerinnen forderten darauf, dass die Stadt Geld an Bührle-Zwangsarbeiterinnen zahlen soll. Die Stadtregierung stimmte zu. Um keine Ungleichheiten zu schaffen, beschloss sie, dass nicht nur die Bührle-Opfer Geld erhalten sollen, sondern alle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Eine schöne Geste. Aber gerecht ist auch das nicht. Das zeigt der Fall von Irma Frei.

Irma Frei, Zwangsarbeiterin – erhält nichts, weil sie nicht aus Zürich kommt

Die Gratulationen kamen unvermittelt. Irma Frei wusste erst gar nicht, warum. Sechs Mails landeten in ihrer Mailbox, nachdem die Stadt Zürich bekanntgegeben hatte, dass sie für die Bührle-Zwangsarbeiterinnen Ein weiteres dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte Zwangsarbeit für Emil Bührle nun doch noch den Geldbeutel aufmachen will.

Alle Gratulanten freuten sich für Irma Frei, dass endlich jemand Verantwortung für die Zwangsarbeit für Emil Bührle übernahm. Doch die Freude war verfrüht.

Als Teenager war Irma Frei fast drei Jahre im Bührle-Fabrikheim in Dietfurt «versorgt» worden. Den Lohn für die Schichtarbeit, die sie dort leisten musste, hat sie nie erhalten.

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Die Behörden hatten mit dem Geld ihre Fremdplatzierung weitgehend finanziert. Doch Irma Frei wird von Zürich kein Geld bekommen – denn sie war damals Schaffhauserin.

«Weil ich 1958 vom Amtsvormund der Stadt Schaffhausen im Bührle-Heim versorgt wurde, soll ich nichts erhalten. Das geht doch nicht. Von den Hunderten Mädchen, die für Emil Bührle Zwangsarbeit verrichten mussten, erhalten nun nur die Zürcherinnen etwas. Das ist nicht recht.»

Irma Frei hofft nun, dass sich auch die Stadt Schaffhausen ihrer Verantwortung stellt. Gründe dafür gäbe es genügend. Im Heim landete Irma Frei ja nur, weil sich damals ihre Eltern hatten scheiden lassen. 

Je mehr Forschungsberichte zu den «Versorgungen» veröffentlicht werden, desto unbestreitbarer wird: Viele Gemeinden haben Schuld auf sich geladen.

Der Druck auf Schaffhausen steigt. Die zuständige Stadträtin Christine Thommen hat Post von einer Regierungsrätin eines anderen Kantons erhalten, wie der Beobachter weiss.

Diese setzt sich für Irma Frei ein und fordert Schaffhausen zum Handeln auf. Thommen sagt dazu auf Anfrage: «Wir prüfen verschiedene Möglichkeiten. Ein diesbezüglicher Entscheid liegt noch nicht vor.»

Bisher hat nur der Bund Gelder gesprochen. Doch je mehr Forschungsberichte zu den «Versorgungen» veröffentlicht werden, desto unbestreitbarer wird: Viele Gemeinden haben Schuld auf sich geladen.

Gemeindeangestellte wie der Amtsvormund der Stadt Schaffhausen besassen einen riesigen Ermessensspielraum. Entscheidend für die Opfer war, wer über sie bestimmen durfte. «Die Wahl des Vormunds war mit weitreichenden Konsequenzen verbunden», heisst es in einer soeben publizierten Studie des Kantons Schaffhausen dazu.

Mehr Unterstützung durch die Gemeinden könnten viele der Opfer dringend brauchen. Zum Beispiel Roger Bresch und Andreas Jost.

Roger Bresch, «unehelicher» Sohn – sein Erfolg vor Bundesgericht ist bitter

Roger Breschs Leben begann mit einer Vergewaltigung. Ein Mann nötigte seine 15-jährige Mutter zum Geschlechtsverkehr. Das Gericht verpflichtete den Mann 1962 zwar zu einer sogenannten Zahlvaterschaft Uneheliche Kinder Die Kinder zweiter Klasse .

Doch der kleine Roger wurde zum «unehelichen» Kind gestempelt, der Mutter nach der Geburt weggenommen und administrativ in Heimen und Pflegefamilien weggesperrt. 

Als Bresch mit 20 in die Freiheit entlassen wurde, bildete er sich zum Lehrer für klassisches Ballett aus. «Die Gewalt, die ich erlebt hatte, musste ich verdrängen», sagt er. Viele Jahre später wurde er nach einem Treppensturz krankgeschrieben und hatte plötzlich viel Zeit zum Nachdenken: «Die Vergangenheit holte mich ein.» 

Es folgte eine Zeit mit Albträumen, Psychotherapien und den ärztlichen Diagnosen «posttraumatische Belastungsstörung» sowie «Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom».

Um eine volle IV-Rente zu erhalten, musste sich Bresch aber bis vor Bundesgericht durchkämpfen. Das Sozialversicherungsgericht Zürich hatte ihm unterstellt, er verlange als Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen eine «privilegierte Sonderbehandlung».

Roger Bresch wohnt heute in einer knapp 30 Quadratmeter grossen Wohnung direkt neben dem Bahnhof Thalwil. An der Decke hängen zwei Computerbildschirme. «Hier arbeite ich», sagt er.

Seine Arbeit besteht darin, die Auswanderung nach Brasilien zu planen. Er spricht bereits so gut portugiesisch, dass er die brasilianische Staatsbürgerschaft beantragen könnte. «Die letzten 20 Jahre meines Lebens will ich endlich ein lebenswertes Leben haben», sagt er. 

Sein Erfolg vor Bundesgericht hat jedoch einen bitteren Nachgeschmack. Bresch erhält zwar rückwirkend ab 2014 eine volle IV-Rente. Weil diese aber nur 1151 Franken beträgt, ist er auf Ergänzungsleistungen angewiesen.

Die Rente wurde so tief angesetzt, weil Bresch nach der Entlassung aus dem Heim so wenig verdient hatte. Denn bei der Berechnung einer IV-Rente spielt das durchschnittliche Jahreseinkommen eine entscheidende Rolle. Und dieses war bei Roger Bresch meist klein.

«Wir sind im Landerziehungsheim in Albisbrunn fatal falsch programmiert worden. Ich war nach der Entlassung oft total aggressiv. Wenn mich jemand anfasste ohne Vorwarnung, reaktivierte das meine Heimvergangenheit. Ich schlug zu. Ich konnte keinen Chef akzeptieren und beruflich nie richtig Fuss fassen. Das Ballett habe ich gebraucht, um mich sozial einordnen zu können und um Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Im Heim Ex-Heimkind kommt endlich zu seinem Geld Biel zahlt Sparbüechli zurück hiess es immer: ‹Du kannst nichts, und aus dir wird nie etwas.›»

Die 25'000 Franken, die er vom Bund bekommen hatte, seien ein Almosen. «Damit will der Staat billig zu einem guten Gewissen kommen. ‹Was wollt ihr Opfer noch? Wir haben ja bezahlt.›»

Die kriminelle Missachtung der Menschenrechte habe bloss eine mickrige Einmalzahlung zur Folge gehabt. «Der Staat kann einem die Gesundheit ruinieren und die Zukunft nehmen, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Haftungsfrage bleibt ungeklärt.»

Andreas Jost, Scheidungskind – zu den Albträumen kommt die Armut

Nachts liegt Andreas Jost fast immer wach im Bett. Vor seinem Fenster breitet sich dunkel das abgelegene Bauerndorf Bärschwil SO aus, während er immer wieder daran denken muss, was er wegen seiner verpfuschten Kindheit im Leben alles verpasst hat. Es ist viel. 

Wenn der 61-Jährige an seine Vergangenheit denkt, steigt in ihm ein Gefühl von Hilflosigkeit auf. «Während meiner Kindheit stand ich den Behörden wehrlos gegenüber.» Noch heute erlebt er Behörden immer wieder als willkürlich.

Gesundheitlich geht es Andreas Jost schon länger nicht mehr gut. Je älter er werde, desto schlimmer sei es. Er leidet etwa an chronischen Magenschmerzen, die psychosomatischer Natur sind. 

«Ich merke seine Vergangenheit tagtäglich», sagt seine Partnerin Heidi Lienberger. «Wegen seiner Schlafstörungen kommt er oft erst um fünf oder sechs Uhr ins Bett. Das geht nun schon seit drei Jahren so. Manchmal hat Andreas Albträume und schreit. Das berührt mich jedes Mal.» Andreas Jost lebt von einer IV-Rente und Ergänzungsleistungen, insgesamt 2700 Franken im Monat. Die IV-Rente erhielt er in den 1980er-Jahren zugesprochen.

Seine Partnerin kann aus gesundheitlichen Gründen nur Teilzeit arbeiten und geht putzen. «Die Armut gibt mir das Gefühl, dass ich ein Mensch zweiter Klasse bin», sagt Andreas Jost. «Wir können nicht am sozialen Leben teilnehmen, uns fehlt das Geld dafür. In unserer 21-jährigen Beziehung waren wir ein einziges Mal gemeinsam in den Ferien.» 

Jost wurde ins Kinderheim weggesteckt, als seine Eltern sich getrennt hatten. Das war 1964, er war drei Jahre alt. Es folgten weitere Heime, mehrere Pflegefamilien – wenig Liebe und viele Schläge. Als er ein Teenager war, nahm ihn sein Vater zu sich.

Andreas Jost blühte auf, hatte an der neuen Schule gute Noten. Doch nach drei Monaten verfügte der Vormund auf Druck der Mutter, dass Andreas zurück ins Heim musste. Ein alleinerziehender Vater war den Behörden damals offenbar suspekt. 

«In den Heimen waren Gewalt und verbale Abwertungen Teil der Erziehung», erzählt Jost. Als 1979 die Vormundschaft endete, sei er ein widerspenstiger Jugendlicher gewesen.

«Der Staat hat mich meiner Kindheit beraubt, meiner Gesundheit und meiner Zukunft.»

Andreas Jost

Er hatte keinen Lehrabschluss und nicht einmal einen Schulabschluss, obwohl in einer Aktennotiz seines Lehrers steht, dass er «intelligenzmässig den anderen überlegen» sei. «Wenn ich bei meinem Vater hätte aufwachsen können, wäre es mir sicher möglich gewesen, eine normale berufliche Laufbahn einzuschlagen», sagt Jost. Er müsste heute nicht von 2700 Franken leben und «konstant Existenzängste» haben. 

Die 25'000 Franken, die er vom Bund erhalten habe, hält er für menschenunwürdig. «Die Aufarbeitung ist für mich weder glaubwürdig noch abgeschlossen. Ich hätte erwartet, dass kein Opfer von weniger als 4500 Franken pro Monat leben muss. Das wäre das Minimum. Das würde einem bescheidenen Lohn nach einer abgeschlossenen Lehre entsprechen.» Die Empfehlung der Expertenkommission nach einer lebenslangen Opferrente habe in Bern aber niemanden interessiert. 

Jost hofft nun, dass sich das noch ändert. «Der Staat hat mich meiner Kindheit Administrativ Versorgte und fürsorgerische Zwangsmassnahmen Die Kinder von einst «Versorgten» leiden bis heute beraubt, meiner Gesundheit und meiner Zukunft.» Er zahle alle seine Rechnungen in Raten ab. Aber diesem Staat bezahle er keine Steuern mehr. «Das bedeutet natürlich immer weitere Auseinandersetzungen mit den Behörden. Aber würde ich das nicht machen, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen.»

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