Giorgio Papalambrou redet gern Klartext. Seine Sätze beginnt der 60-jährige Gymnasiallehrer oft mit den Worten «Darf ich Sie schockieren?», um dann eine witzige Episode oder ein zynisches Beispiel aus seinem Schulalltag vorzutragen. Ein guter Gesprächspartner also, um über Missstände an der Schule zu sprechen.

Er unterrichtet seit 40 Jahren, war zuerst Primarlehrer, seit gut 20 Jahren ist er Deutsch-, Geschichts- und Philosophielehrer an der Mittelschule Küsnacht am Zürichsee. Seine Schüler nennen ihn Papa, Papalambrou findet das «erträglich». Er fährt sich mit den Händen durchs schüttere graue Haar, bereit zum Loslegen. Seine dunklen Augen funkeln.

Beobachter: Herr Papalambrou, ist Sparen in der Bildung ein Tabu?
Giorgio Papalambrou:
Es ist verlogen, von Sparmassnahmen im Bildungswesen zu reden, ohne geklärt zu haben, ob es dabei nicht primär um die Senkung des Steuerfusses geht! Seit 2002 wurde die Mittelschulzeit um sechs Monate verkürzt, im Fach Geschichte haben wir seither rund 30 Prozent weniger Stunden – seit ich unterrichte, wird gespart.

Beobachter: Momentan trifft die Spardiskussion vor allem die Mittelschulen. Was macht die Gymis denn so teuer?
Papalambrou: 
Vorausschicken möchte ich: Der Preis pro Gymischüler ist nicht gestiegen, das ist ein Fakt. Es gibt aber tatsächlich eine beeindruckende Kostenexplosion an den Volksschulen.

Beobachter: Warum?
Papalambrou: 
In den Primarschulen werden etwa 40 Prozent der Kinder zusätzlich gefördert, durch Deutschkurse für Ausländer oder heilpädagogische Massnahmen oder sonstige Therapien – ein Wahnsinn. Aber man wollte ja die Inklusion, damit alle Kinder die Regelschule besuchen können, auch die mit einer Behinderung. Die günstigeren Sonderschulen wurden durch teurere Fördermassnahmen weitgehend ersetzt. Heute unterrichten bis zu neun Lehrkräfte eine Klasse mit 23 Schülern, ein totaler Blödsinn!

Beobachter: Im Kanton Zürich müssen die Gymnasien 18 Millionen Franken sparen...

Papalambrou unterbricht zischend, schiebt seinen Stuhl vor und zurück, verwirft die Hände.

Papalambrou: Das macht mich wirklich gallig. Wo, bitte schön, sollen die Gymis noch sparen? Es wurde ja schon alles weggespart! Wenn man jetzt sparen will, dann geht es um Lohnkürzungen, um nichts anderes. 85 Prozent des Budgets einer Mittelschule machen die Löhne aus.

Beobachter: Gymilehrer verdienen ja ziemlich gut.
Papalambrou: 
Ja, natürlich, auf dem Papier schon. Unsere Löhne gehören wohl zu den besten auf der Erde, wir wurden aber vermutlich auch am längsten ausgebildet. Aber da muss ich etwas Zentrales richtigstellen: Kaum ein Gymilehrer arbeitet Vollzeit, das ist heute gar nicht mehr machbar. 60 Prozent der Stunden am Gymi werden mit Pensen von 50 Prozent oder weniger gegeben. Es ist also eine Mär, von 150'000- bis 200'000-Franken-Löhnen zu sprechen. Keiner meiner Kollegen arbeitet 100 Prozent, keiner. Es ist nicht in Ordnung, immer wieder zu lesen, Lehrer verdienten so viel.

«Dass Lehrer so viel verdienen, ist ein Märchen!»

Giorgio Papalambrou, Lehrer

Beobachter: Wenn nicht bei den Löhnen gespart werden darf – wo dann?
Papalambrou: 
Im Kanton Schaffhausen beginnen sie im Gymnasium mit 30 Kindern pro Klasse, so bleibt die mündliche Mitarbeit der Schüler auf der Strecke, das geht nicht. Das sind zu viele. Beim Unterrichten ist der Spielraum zum Sparen also minimal.

Beobachter: In Luzern wurden zwei zusätzliche Wochen Ferien verordnet.
Papalambrou: 
Das ist natürlich ein klarer Bildungsabbau, man kann doch nicht permanent Stunden reduzieren und gleichzeitig die Hochschulreife einfordern. Aber es ist vermutlich trotzdem eine relativ elegante Sparübung, weil so kein Clinch unter den Lehrern entsteht.

Beobachter: Clinch unter Lehrkräften?
Papalambrou: 
Im Kanton Zug bedeutet jede ausfallende Stunde eine Lohnkürzung. Das gibt hässliche Verhältnisse – da kann keiner mehr eine Exkursion machen oder mit seiner Klasse ins Museum. Wer zahlt dann die ausfallenden Lektionen der Kollegen?

Beobachter: Werden zu viele Fächer angeboten?
Papalambrou: 
Natürlich könnte man die Wahlkombinationen bei den Profilen verringern: nur noch Englisch statt Italienisch oder Spanisch anbieten. Aber dann hat die Wirtschaft gesiegt, sie diktiert, was die Jugendlichen von den Grundlagen her lernen sollen: etwas Sprache, natürlich IT und etwas Mathe. Damit kann man die jungen Menschen überall in Europa verschieben. Das kann keine Option sein.

Papalambrou macht eine lange Pause, dann bricht es wieder aus ihm hervor: Es gehe um die Qualität der Bildung. Die Reformer würden einfach Fächer wie Englisch, Informatik oder Mathematik pushen, weil die Wirtschaft solche Leute brauche. Er haut auf den Tisch.

Beobachter: Die Wirtschaft sagt, was in der Schule gelernt werden soll?
Papalambrou: Ich frage zurück: Ist es sinnvoll, dass die Schüler heute keine Ahnung mehr von der Antike haben, man das Mittelalter nicht mehr behandelt, dass die Bewusstseinsentwicklung hintangestellt wird? Am Ende des Gymnasiums muss doch Wissen über die ganze Entwicklung des Abendlands sichergestellt sein.

Das Schulwesen befindet sich im Wandel – aber in die falsche Richtung, sagt Papalambrou.

Quelle: Kilian J. Kessler

Beobachter: Sie sehen die Bildung in ihrer Gesamtheit in Gefahr?
Papalambrou: 
Ja, wir haben eine ökonomisierte Ausrichtung von allem. Lerne ich etwas nur, damit ich es auch später anwenden kann? Wenn mir ein Schüler sagt, diesen Stoff brauche er doch später nie mehr, sage ich: Hey, sorry, wir lernen nicht nur, um etwas anzuwenden. Das ist purer Utilitarismus. Lernen soll dich verändern, du sollst mathematisch, historisch, biologisch denken lernen.

Papalambrou steht auf, wirft die Hände in die Luft und rezitiert den Anfang von Goethes «Mailied»:

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Er setzt sich lachend und fragt:

Haben Sie es gemerkt? Diese Verse sind Jamben, damit können Sie die Schülerschaft anregen. Wenn Sie aber eine unruhige Klasse haben, helfen Trochäen, das beruhigt. Leider können wir auf solche Feinheiten kaum mehr Wert legen.

Beobachter: Mehr Trochäen-Versfüsse im Unterricht: Was muss sich sonst noch ändern?
Papalambrou: Man muss den Akzent wieder auf die künstlerische Bildung setzen, weil das Grundprinzip einer gelingenden Erziehung die Kunst und das Spiel sind. Davon bin ich überzeugt. Mit spielerischen Prinzipien kann man Schüler sogar an die Relativitätstheorie heranführen, statt Daten auswendig lernen zu lassen. Hier werden grobe Fehler gemacht. Kinder brauchen künstlerisches Spiel.

Beobachter: Wie erleben Sie heutige Schülerinnen und Schüler?
Papalambrou: Sie sind nie wirklich ganz da, also konzentriert, wegen der Smartphones oder wegen des vielen Gamens. Sie sind nicht mehr zentriert. Sie sitzen zu siebt zusammen, jeder an einem Handy – man könnte fast von Autismus sprechen! Mit dem Aufkommen der Computer in den frühen neunziger Jahren hat sich zunehmend der Ausdruck der Jugendlichen verändert: Er ist im Durchschnitt weniger differenziert, ihr Wortschatz ist weniger vielschichtig. Die Sinneswahrnehmungen sind weniger lebendig, sie lesen ja auch kaum noch…

Wie so oft, wenn es um Kinder geht, geht es auch um deren Eltern. Die Eltern tun zu wenig für die Sinnesförderung ihrer Kinder, davon ist Lehrer Papalambrou überzeugt. Er erzählt ein Müsterchen:

Ein Zweitklässler hatte viel Freude an mathematischen Spielchen, er wurde gefördert und gedrängt von seinen Eltern. In der vierten Klasse durfte er dann am Lehrstoff der Sechstklässler teilnehmen.

Papalambrou steht auf.

Aber das Kind geht noch so.

Er macht vor, wie der Bub ungeschickt eine Treppe hochtrampelt.

Also entwicklungsmotorisch sehr problematisch. Was passiert? Der Junge muss zu den Sechstklässlern in ein anderes Schulhaus. Er kommt heulend zurück, weil er das Klassenzimmer nicht gefunden hat… Obwohl er so begabt ist? Das ist typisch. Eltern müssen doch dafür sorgen, dass ihr Kind in allen Belangen breit kultiviert wird!

Papa grinst. Es sei unglaublich, wie manche Eltern ihre Kinder verkennten. Zum Beispiel: Ein Kind habe eine ausgeprägte Lese- und Verstehensschwäche, und seine Eltern meinten, es werde bestimmt Mediziner...

Beobachter: Sollen sich Eltern denn nicht einmischen?
Papalambrou: Solche, die sich einsetzen, sind gefragt. Als Klassenlehrer sage ich: Es ist der grösste Verdienst, wenn es mir gelingt, zusammen mit den Eltern einen Schüler auf das richtige Gleis zu stellen. Vielleicht nicht am Gymi, sondern an der Berufsmittelschule oder in einer Lehre.

«Kinder brauchen künstlerisches Spiel.»

Giorgio Papalambrou, Lehrer

Beobachter: Wollen Sie sagen, es habe zu viele Kinder am Gymi, die dort nicht hingehören?
Papalambrou: 
Ganz klar: ja. Heute liegt die Gymiquote in der Schweiz im Durchschnitt bei 20 bis 25 Prozent. 10 bis 15 Prozent würden völlig reichen. Intellektuelle Schüler und Schülerinnen, die sich für Sprache und Logik begeistern, sind am Gymnasium gut aufgehoben und sollen später Akademiker werden.

Beobachter: Aber wer die Aufnahmeprüfung besteht...
Papalambrou: 
Wenn es denn sein muss, öffne ich auch noch den Giftschrank: Das Mittelschulamt verlangt von uns korrigierenden Deutschlehrern bei der Aufnahmeprüfung einen Notenschnitt der Aufsätze von 3,2 bis 3,8 – aus Gründen der Gleichberechtigung. Ein Lehrer korrigiert etwa 30 bis 40 Arbeiten und muss also einen entsprechenden Notenschnitt abliefern. Das heisst, das Ergebnis steht schon im Voraus fest: Wenn eine Gruppe weniger begabt ist, wird man gezwungen, zum Beispiel Arbeiten, die eine 3,5 verdienen, auf eine 5 hochzuschrauben, damit man dann beim gewünschten Schnitt landet. Das ist doch ein Witz! So kommen Kinder ans Gymnasium, die dort definitiv nicht hingehören.

Giorgio Papalambrou schiebt die Ärmel seines schwarzen Pullis herunter und seufzt:

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Schülerinnen und Schüler. Aber es läuft leider so viel schief.

Hausaufgabe: Sparen

Was früher als Tabu galt, ist in der politischen Schweiz längst mehrheitsfähig: Bei Sparübungen soll die Bildung, einer der grössten Budgetposten der öffentlichen Hand, nicht mehr ausgeklammert werden.

Allein in der Deutschschweiz wollen die Kantone in den kommenden drei Jahren ihre Budgets für die Bildung auf allen Stufen um über eine halbe Milliarde Franken senken. Gemäss einer Erhebung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) betreffen die bis 2018 geplanten Kürzungen hauptsächlich die Bereiche Unterrichts- (254 Millionen Franken) und Anstellungsbedingungen (240 Millionen). Somit komme es laut LCH zu Erhöhungen bei den Klassengrössen oder zum Abbau von Lektionen. Zudem müssten die Lehrpersonen Lohneinbussen in Kauf nehmen oder mit einer Erhöhung ihrer Pflichtpensen rechnen. Dabei ist das Sparen als Hausaufgabe der Schulen längst im Gang: Die Kantone haben ihre Leistungen bereits von 2013 bis 2015 um rund 265 Millionen Franken reduziert.

Der Entzug von Geldern für die Bildung stösst vor allem bei denjenigen auf Ablehnung, die direkt damit konfrontiert sind: bei Lehrerinnen und Lehrern. Sie befürchten, dass sich die neuste Sparwelle unmittelbar auf die Qualität des Unterrichts auswirkt. Viele haben Anfang Jahr ihre Sorge mit Protestaktionen öffentlich gemacht – so auch Giorgio Papalambrou, der seit 40 Jahren unterrichtet. Besonders kritisiert wird, dass die Kürzungen ausgerechnet in eine Zeit fallen, in der die Schülerzahlen wieder steigen: Das Bundesamt für Statistik geht für die obligatorischen Stufen bis zum Jahr 2024 von einem Zuwachs um 13 Prozent aus.