Beobachter: Manuel Jaun, Sie haben als Jurist für den Bund einen Leitfaden über die Verantwortlichkeiten auf Wanderwegen verfasst. Was war der Auslöser?
Manuel Jaun: Der Verband Schweizer Wanderwege hatte festgestellt, dass es unter den für Wanderwege Verantwortlichen eine grosse Verunsicherung gibt. Nach einem Unfall 1998 in der Bieler Taubenlochschlucht wurde der Präsident der Betreibergesellschaft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Da fragten sich Wegverantwortliche, ob sie quasi mit einem Bein im Gefängnis stehen. Der Leitfaden soll Grundsätze und Regeln klären.


Laut Bundesgesetz soll man die Wege «möglichst gefahrlos» begehen können. Was heisst das?
Schon das Wort «möglichst» zeigt, dass es nicht um eine absolute Sicherheit geht. Die Anforderungen sind relativ tief – auch weil es um ein riesiges Wanderwegnetz mit 65'000 Kilometern geht. Eine wichtige Rolle spielen die Wegkategorien. Die Anforderungen an die Sicherheit sind bei einem gelben Wanderweg höher als bei einem Berg- oder Alpinwanderweg. Zentral ist, dass die Wege regelmässig kontrolliert werden. Ist die Signalisation vorhanden, sind die Wegmarkierungen noch lesbar? Sind Leitern, Treppen oder Geländer in Ordnung?


Was müssen Wandernde beachten? 
Die Eigenverantwortung spielt eine zentrale Rolle. Wer in den Bergen wandert, muss unter anderem trittsicher sein, Gefahren wie Steinschlag kennen und fähig sein, sich zu orientieren. 


Steinschläge sind eine häufige Gefahr. Wann müssen Wegverantwortliche handeln? 
Wichtig ist der Grundsatz, dass sie nicht präventiv mögliche Naturgefahren abklären müssen. Erst wenn sie zum Beispiel feststellen, dass plötzlich frische Gesteinsbrocken auf dem Wanderweg liegen, müssen sie je nach Wegkategorie handeln. Auf Bergwanderwegen ist dies bei anhaltend starkem Steinschlag oder nach einem Felssturz der Fall.


Wann muss ein Wanderweg gesperrt werden?
Wenn eine akute, grosse, nicht kalkulierbare Gefahr droht. Falls zusätzliche Abklärungen nötig sind, lässt sich ein Weg auch vorsorglich sperren. Ein blosses Warnschild ist zweckmässig, wenn es den Wandernden hilft, das Unfallrisiko durch ein angepasstes Verhalten selber möglichst klein zu halten – etwa mit der Aufforderung, eine heikle Zone zügig zu durchqueren.

«Wer bereits lange unterwegs war, tendiert eher dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, weil Umkehren zu viel Zeit kosten würde.»

Manuel Jaun, Rechtsprofessor

Wo ist der beste Ort für ein Warnschild?
Je nach Grösse der Gefahr ist es sinnvoll, das Schild bereits am Startpunkt einer Wanderung anzubringen und nicht erst vor der heiklen Stelle. Wer bereits lange unterwegs war, tendiert eher dazu, das Risiko auf sich zu nehmen, weil Umkehren zu viel Zeit kosten würde. 

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Beim Fall in der Taubenlochschlucht wurde der Verantwortliche verurteilt, weil ein Kind durch einen Steinbrocken starb. Was war sein Fehler?
Wenige Monate zuvor war an der gleichen Stelle ein grosser Brocken ausgebrochen und auf den Wanderweg gerutscht. Man warf dem Wegverantwortlichen vor, dieses Ereignis falsch eingeschätzt zu haben. Statt eine Fachperson beizuziehen, beurteilte er die Situation selber und kam zum Schluss, dass keine Gefahr mehr droht.


Gibt es Parallelen zum Fall Piz Cengalo?
Es gibt wichtige Unterschiede. So geschah der Unfall in der Taubenlochschlucht nicht auf einem Bergwanderweg, sondern an einem Rastplatz auf einem gelb markierten Wanderweg mit Spazierwegcharakter. Am Piz Cengalo wurde die Gemeinde durch Fachleute beraten. Das Risiko wurde also eingeschätzt, im Gegensatz zur Taubenlochschlucht. Offen ist jedoch die Frage, ob die Einschätzung der Fachleute einer Überprüfung standhält. Ob also eine akute, unmittelbare Gefährdung der Wandernden mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen und auf eine Sperrung des Wegs verzichtet werden konnte. Das muss man gerichtlich vertieft anschauen.


In Graubünden gibt es die Sorge, dass künftig viele Wege gesperrt werden müssen. Zu Recht?
Nein. Es kommt sehr selten zu Gerichtsfällen und noch seltener zu einer Verurteilung. Wenn man im Leitfaden sieht, was man einhalten muss und wie hoch letztlich die Eigenverantwortung gewichtet wird, dann ist das ein Schreckgespenst.

Zur Person

Manuel Jaun, Rechtsprofessor an der Universität Bern

Manuel Jaun ist Rechtsprofessor an der Universität Bern und Autor des Leitfadens «Gefahrenprävention und Verantwortlichkeit auf Wanderwegen». Dieser erschien kurz vor dem Bergsturz von Bondo im Auftrag des Bundes und des Dachverbands Schweizer Wanderwege.

Quelle: Privat
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