Wenn sie Pause hatte, musste sie sich auf einen Kinderstuhl zwängen. «In vielen Kitas gibts nur Tische und Stühle in Kinderhöhe», erzählt Jelena Valdivia. Doch das sei noch das kleinste Problem gewesen. Sie war die einzige Fachkraft im Betrieb, Lernende übernahmen die gleichen Aufgaben wie ausgebildetes Personal. Über 30 Mädchen und Buben hätten sie in einem Raum betreut. Wegen der vielen Personalwechsel musste sie zahllose Überstunden leisten – bei tiefem Lohn.

Aus Spargründen kam die Putzfrau nur einmal pro Woche. «Wir Betreuerinnen haben jeden Tag die Böden feucht aufgenommen, WC und Küche geputzt und Staub gesaugt», so die 31-Jährige. Die Bedingungen seien so schlecht gewesen, dass sie ein Burn-out hatte. «Ich war sechs Monate krankgeschrieben.» Dann kündigte sie.

Kitas können nicht rentieren

Noch vor wenigen Jahren sah alles ganz anders aus. In den Kindertagesstätten standen die Zeichen auf Aufbruch. Der Bund hat in den letzten 15 Jahren insgesamt 353 Millionen Franken in Kitas, Horte und Tagesfamilien investiert, die Zahl der Plätze hat sich verdoppelt.

Kita-Unternehmen schossen damals wie Pilze aus dem Boden, aber vieles laufe nicht nach Wunsch, bestätigt Christine Flitner, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD. «Das Hauptproblem der Kitas ist ihre Unterfinanzierung.» Bei einer Vollkostenrechnung koste ein Kita-Platz rund 2300 Franken pro Monat. Doch das wolle und könne fast niemand bezahlen. Trotz den Millionen des Bundes fehle es an öffentlicher Unterstützung. Es genüge nicht, wenn Eltern teils horrende Beiträge zahlten – 120 und mehr Franken täglich pro Kita-Platz. In der Schweiz sei man nach wie vor der Auffassung, die Betreuung der Kleinsten sei «Privatsache», sagt Flitner.

«Es ist rücksichtslose Ausbeutung von Jugendlichen, wenn man sie zwei, drei Jahre hinhält und ihnen zuletzt nicht einmal eine Lehrstelle offeriert.»

 

Christine Flitner, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD

Die Bilanz der Gewerkschafterin: «Das Personal wird schlecht entlöhnt. Anstelle von qualifizierten Fachangestellten übernehmen Praktikantinnen, die 400 bis 1000 Franken pro Monat verdienen. Für Weiterbildung, Supervision und Teamsitzungen fehlen Geld und Zeit. Mitarbeitende sind häufig krank, es gibt viele Burn-out-Fälle. Die Folgen: eine überdurchschnittlich hohe Fluktuation, akuter Personalmangel und Einbusse der Betreuungsqualität.»

Sorgen bereitet der Gewerkschafterin insbesondere die Lage der Praktikantinnen. Jugendliche könnten die dreijährige Fachausbildung Betreuung Kinder (FaBeK) mit 16 Jahren, unmittelbar nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit, beginnen, sagt Flitner. Und doch würden in keinem anderen Beruf vor dem Lehrbeginn derart viele mehrjährige Praktika absolviert, die erst noch miserabel entlöhnt werden. «Es ist rücksichtslose Ausbeutung von Jugendlichen, wenn man sie zwei, drei Jahre hinhält und ihnen zuletzt nicht einmal eine Lehrstelle offeriert.»

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Im Kanton Bern tut sich was

Im Kanton Bern hat man das Problem erkannt. Dort sind Praktika in Zukunft auf sechs Monate beschränkt und dürfen nur dann auf ein Jahr verlängert werden, wenn ein Lehrvertrag unterschrieben ist. Der VPOD will aber mehr. Er fordert die vollständige Abschaffung der Praktika. Zwei-, dreiwöchige Schnupperwochen sollen reichen. Das genüge, damit sich interessierte Schulabgänger ein Berufsbild verschaffen können.

Ein anderes Problem sei, dass die Gesellschaft immer höhere Anforderungen an die Kitas stelle. Diese sollen zunehmend auch Bildungsaufgaben übernehmen, fremdsprachige, bildungsferne oder sozial benachteiligte Kinder integrieren und fördern, Einzelkindern Sozialkompetenz vermitteln sowie dafür sorgen, dass die Eltern genügend arbeiten können und damit auch einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel leisten.

«Fachfrau Betreuung ist ein total unterbewerteter klassischer Frauenberuf, dessen Prestige ganz besonders tief ist.»

 

Christine Flitner, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD

Die Ausgangslage ist auch sonst widersprüchlich. Eltern vertrauen den Kindertagesstätten ihr Heiligstes an, ihre Säuglinge und Kleinkinder. Doch viele Kita-Mitarbeitende klagen, dass ihre Arbeit häufig nicht genügend geschätzt werde. «Immer wieder sagen mir Eltern, die ihr Kind abgeben, gut gelaunt ins Gesicht: ‹Ich würde jetzt auch lieber ein bisschen mit den Kleinen spielen›», berichtet eine.

«Der Beruf der Fachfrau Betreuung ist ein total unterbewerteter klassischer Frauenberuf, dessen Prestige ganz besonders tief ist, weil man ‹nur› Säuglinge und Kleinkinder in seiner Obhut hat», kritisiert Gewerkschafterin Flitner.

Dass es Handlungsbedarf gibt, zeigte eine repräsentative Befragung in der Stadt Zürich schon vor drei Jahren. Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin stellte damals fest, dass die Fluktuation in Kitas extrem hoch ist. 50, an einzelnen Orten bis zu 100 Prozent der Angestellten wechseln innerhalb eines Jahres die Stelle. In jeder zweiten Kita sei die für die Kinder wichtige Kontinuität in der Betreuung nicht mehr gewährleistet. Zwei Drittel der Kita-Mitarbeiterinnen fühlen sich erschöpft. Und fast alle Befragten wünschen sich, dass es mehr unangemeldete Kontrollbesuche der Aufsichtsgremien gibt.

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Kurzerhand eine eigene Kita gegründet

Therese Matter* kennt die Probleme. Sie war direkt nach ihrer Ausbildung in eine Kita eingetreten, die zu einer Kette gehört. Ihre Chefin war selten vor Ort. Matter war die einzige Fachfrau, neben zwei, drei Praktikantinnen. Sie öffnete morgens um sieben Uhr die Kita und schloss sie abends um 18 Uhr. Nach drei Monaten kündigte sie entnervt.

Heute hat sie zwei eigene Kitas auf dem Land. Ihren Angestellten bietet sie Bedingungen, die sie damals schmerzlich vermisst hat: gute Löhne – rund 5000 Franken für ausgebildete Fachkräfte –, sechs Wochen Ferien, erwachsenengerechtes Mobiliar, einen Pausenraum, ausreichend und gut qualifiziertes Personal. Die Praktikantinnen werden eng begleitet und können spätestens nach einem Jahr ihre Lehrstelle antreten.

«Wir haben ein stabiles Team. Seit 2013 hat niemand gekündigt», sagt die 30-Jährige stolz. Matter führt Wartelisten für Kita-Plätze, so gross ist die Nachfrage.

In Zürich und in Winterthur präsentiert sich die Lage für einzelne Kitas schon wieder anders. Nachdem die Subventionen gekürzt worden sind und die Elternbeiträge erhöht werden mussten, sind viele Plätze nicht besetzt, einzelne Gruppen müssen gar schliessen. Um das zu verhindern, bauen manche Kitas ihr Angebot weiter aus. Sie verlängern die Öffnungszeiten morgens und abends, öffnen jeden zweiten Samstagvormittag, damit die Eltern ungestört shoppen können.

Die Angestellten brauchen einen GAV

Ein Fehler, sagt Gewerkschafterin Flitner. «Das sind oft Massnahmen, die zulasten des Personals gehen.» Statt mehr Angebote für Eltern fordert der VPOD den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags für die ganze Branche – mit verbindlichen Mindestlöhnen, geregelten Arbeitszeiten, Ferien, Mutterschaftsurlaub und Weiterbildung. Am liebsten wäre Flitner aber, wenn Kitas in öffentliche Non-Profit-Organisationen umgewandelt würden. Mit dieser Forderung steht sie nicht allein. Basierend auf den Ergebnissen der Stadtzürcher Studie, kam die Universität Zürich zum Schluss: «Eine gewinnorientierte Trägerschaft wirkt sich häufig negativ auf die Rahmenbedingungen aus.» Jelena Valdivia hat nach ihrem Burn-out eine bessere Stelle gefunden. Die 31-Jährige ist jetzt Gruppenleiterin in einer Kindertagesstätte in Zürich-Altstetten. Es laufe prima, sagt die gebürtige Bosnierin. Ihre Chefin sei eine erfahrene Berufsfrau – ein «wirkliches Vorbild mit einer klaren Haltung». Die Personalsituation gehe in Ordnung. Wenn eine Kollegin krank ist, übernimmt eine Springerin aus einem Aushilfspool. Und der Lohn sei mit 5000 Franken für ein 90-Prozent-Pensum mit Leitungsfunktionen «ganz okay». Es gebe sogar ein Pausenzimmer, wo man auf Stühlen für Erwachsene sitzen könne. * Name geändert

Weniger Praktika in Kitas gefordert

Bund, Kantone und die Dachorganisation Arbeitswelt Soziales wollen weniger Praktikumsplätze für Betreuerinnen. Für unter 18-Jährige sollen sie gänzlich abgeschafft werden, so das Ergebnis eines runden Tischs. Der Einstieg in die Berufswelt müsse die Lehre bleiben. Auch für über 18-Jährige soll das Angebot stark reduziert werden. Der Verband Kinderbetreuung begrüsste dies im April, weist aber auf erhebliche Mehrkosten für die Betriebe hin.