Ein Lehrer ruft am Morgen bei der Schulleitung an. Er hat hohes Fieber (nein, kein Corona), fühlt sich wie erschlagen, der Kopf dröhnt. Sein Hausarzt hat ihn zu 100 Prozent krankgeschrieben.

Leicht fällt ihm dieser Anruf nicht, sagt der Lehrer, der anonym bleiben will. Wie andere Lehrpersonen leidet er unter Präsentismus; dem Zwang, seinen Job auch in einem Zustand zu machen, der eigentlich nur nach einem schreit: Ab ins Bett!

Doch dieses Mal bleibt nur das Bett. Der Schulleiter sieht das ein, hat nichts dagegen einzuwenden. Aber der Lehrer soll doch, findet er locker, der Klasse via Konferenzschaltung Aufträge geben. Korrigieren könne er die ja dann, wenn er wieder gesund sei.

Muss der Lehrer das? Die juristische Antwort ist glasklar: Nein. Krank ist krank. Doch der Kranke denkt nach: Wenn ich jetzt ausfalle, muss ein Kollege, eine Kollegin einspringen. In einer Zeit, in der ohnehin schon alle am Anschlag sind. Die kurzfristige Umstellerei von Präsenz- auf Fernunterricht, die Quarantäne einzelner Klassen, das Nebeneinander von digitalen und analogen Lehrmitteln, das alles geht an die Substanz. Kann man also von einer Kollegin erwarten, ein zusätzliches Pensum zu stemmen?

Schulen am Limit

«Mir sind keine Anweisungen einer Schulleitung bekannt, dass man krank von zu Hause aus weiterarbeiten soll», sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin beim Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. «Aber die Covid-19-Situation bringt Schulen an ihre Grenzen.» Und sie wisse, dass Lehrpersonen auch krank weiterarbeiten, weil sie ihren Kolleginnen und Kollegen nicht die Betreuung einer zweiten Klasse zumuten wollen.

Das war schon vor Corona so. Doch die neue Routine im Fernunterricht hat den Druck auf kranke Mitarbeitende massiv verstärkt. Auch bei Bürolisten, die ins Homeoffice gewechselt haben. Und das ohne explizite Aufforderung aus der Chefetage: Man weiss, dass es eigentlich möglich ist, selbst vom Bett aus seine Arbeit zu machen.

Das kann ein Vorteil sein. Mit einem verknacksten Fuss einen Tag lang vor einer Klasse zu stehen, ist unmöglich. In solchen Momenten ist die digitale Option sogar eine Chance, weil die Schule dann ohne Ersatzlehrperson durchkommt. Andererseits braucht sich die Schulleitung dann nie wirklich um eine sinnvolle und zuverlässige Planung von Vertretungen durch Springer und Aushilfen zu kümmern. Ein Teufelskreis.

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Es stellt sich also die Frage: In welchen Situationen ist die Bitte des Arbeitgebers oder der Vorgesetzten legitim, trotz Krankheit von zu Hause aus zu arbeiten?

«Ob man sich in der Lage fühlt, zu arbeiten, ist eine hochgradig individuelle Frage», sagt Dieter Kissling. Er leitet das Institut für Arbeitsmedizin in Baden und kennt alle Seiten des Problems: die des Arztes, der Patientin, des Arbeitgebers. «Es gibt Leute, die sind mit einer Erkältung todkrank. Andere arbeiten mit einer Lungenentzündung noch zwei, drei Stunden am Tag.» Erfahrungsgemäss müsse man Mitarbeitende eher bremsen, wenn sie krank arbeiten wollen, als sie dazu zu motivieren, doch trotz Schnupfen ins Büro zu kommen.

Es sei Sache des behandelnden Arztes, zu entscheiden, ob und wie viel jemand arbeiten kann. «Dazu muss ein Arzt nicht nur wissen, woran ein Patient oder eine Patientin leidet. Er muss ebenso Kenntnis darüber haben, wie die Arbeitssituation der erkrankten Person aussieht», sagt Kissling.

«Die Regeln am Arbeitsplatz und im Home­office sind dieselben. Kranke Personen sollen sich erholen können und nicht arbeiten.»

Christine Michel, Fachsekretärin für Gesundheitsschutz bei der Gewerkschaft Unia

In Deutschland gab es bis August 2020 im Vergleich zur Vorjahresperiode weniger Krankheitsmeldungen – trotz Corona oder vielleicht gerade wegen Corona. Das hat die Krankenkasse AOK berechnet, bei der rund ein Drittel aller Deutschen versichert ist.

Ähnliche Beobachtungen kommen aus der Schweiz Absenzen im Job während Corona-Krise Nicht mehr kranke Mitarbeitende als sonst . Über die Gründe, weshalb weniger Arbeitnehmende krankheitsbedingt ausfallen, kann man nur spekulieren.

Corona mache in der Schweiz vor allem eines: Angst, sagt Arbeitsmediziner Dieter Kissling. Angst nicht nur vor einer Ansteckung, vor einem Krankheits- oder gar Todesfall in der Familie, sondern auch Angst um den Arbeitsplatz. Es könne durchaus sein, dass sich der Gruppendruck aufgrund der Pandemie noch erhöht habe. Wenn ein Kollege oder die Vorgesetzte krank weiterarbeitet, traut sich der Nächste, der krank wird, nicht darauf zu beharren, was ein Arztzeugnis bedeutet: dass man nicht arbeitet – nicht arbeiten darf.

«Die Regeln am Arbeitsplatz und im Homeoffice sind dieselben. Kranke Personen sollen sich erholen können und nicht arbeiten», sagt Christine Michel, Fachsekretärin für Gesundheitsschutz bei der Gewerkschaft Unia. Das legt das Arbeitsrecht so fest.

Angstfreies Klima schaffen

Deshalb stehen Arbeitgeber in der Pflicht. Und das gleich doppelt: Sie müssen ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und zugleich ein Arbeitsklima schaffen, das es möglich macht, sich angstfrei krank zu melden – und eben nicht zu arbeiten, wenn die Ärztin meint, man müsse sich schonen.

Arbeitsmediziner Kissling, selber auch Arbeitgeber, weiss, wie schwer das manchmal ist. «Natürlich habe ich im Hinterkopf, wie sich jemand verhalten hat, als sie oder er das letzte Mal krank war. Aber gleichzeitig muss es mir jederzeit bewusst sein, dass ich nicht tolerieren darf, dass jemand krank arbeitet, und dass ich auf gar keinen Fall irgendwelchen Druck ausüben darf.»

Solcher Druck ist nicht nur widerrechtlich, sondern langfristig kontraproduktiv. Studien belegen: Wer regelmässig krank arbeitet, verursacht langfristig mehr Ausfälle. Krank arbeiten macht krank. Auffällig ist laut Kissling: «In grossen Firmen herrscht oft ein wohlwollender Führungsstil. Hier trauen sich die Mitarbeitenden eher, die Arbeit liegen zu lassen, wenn sie wirklich krank sind.» In KMU sei die Ausgangslage komplizierter.

Ob das dem Führungsstil oder aber der grösseren Loyalität, dem Wissen um die Folgen eines Ausfalls geschuldet ist, lasse sich nur im Einzelfall abschätzen. Dieter Kissling sagt: «Ein Chef, dem es nicht gelingt, ein Klima zu schaffen, in dem man sich als Mitarbeitender getraut, sich krank zu melden, ist in einer Führungsrolle fehl am Platz.»

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