Aufgezeichnet von Birthe Homann:

«Es heisst, alte Leute müssen sich bewegen. Falsch – sie müssen sich anstrengen! Und sich richtig ernähren. Ich bin 99 Jahre und 11 Monate alt, ich weiss, wovon ich rede. Und als Chemiker kenne ich die Prozesse im menschlichen Körper gut.

Seit zehn Jahren besteige ich jede Woche die Rigi. Neuerdings aber nur noch von Rigi Kaltbad bis nach Rigi Kulm. Das sind exakt 374,5 Höhenmeter. Mehr schaffe ich nicht mehr. Und dafür brauche ich auch vier, fünf Stunden. Ich gehe sehr langsam, bei jedem Schritt nehme ich einen tiefen Atemzug. Mein Brennstoff ist der Traubenzucker. Ich nehme ungefähr 400 Gramm davon mit, das ist nötig für diesen Effort.

Immer nur nach oben

Ich marschiere nur bergauf, sonst ist es nicht anstrengend genug. Den Traubenzucker setze ich in regelmässigen Abständen ein. Und zum Frühstück esse ich immer Haferflockenbrei. Dazu nehme ich Vitamin C und weitere Nahrungsergänzungsmittel wie Ginkgo oder Kalzium. Bei mir zu Hause steht eine ganze Batterie an Fläschchen und Dosen auf dem Tisch. Zwei von jedem zum Hafermus, das ist mein Morgenritual.

Die Rigi ist so ein schöner Berg. Die Schichtungen laufen alle von links oben nach rechts unten. Die sind aus verschiedenen Materialien zusammengepresst, Nagelfluh heisst das. Vom Vierwaldstättersee aus sieht man sie gut. Und das Panorama, wenn man dann oben auf dem Kulm steht. Fantastisch. Brisen, Rotstock, die 13 Seen, Zugersee, Lauerzersee und wie sie alle heissen, die Glarner Alpen.

Ich sehe die Rigi von meinem Haus aus. Herrlich. Alle Berge, die ich von hier sehe, habe ich früher mal bestiegen. Auf dem Pilatus war ich oft, auf dem Titlis. Ach, das waren noch Zeiten, das schaffe ich heute natürlich nicht mehr.

Mit 20 bin ich nach Emmenbrücke gekommen, habe als Chemiker in der Viskosefabrik gearbeitet. Das ist jetzt 80 Jahre her. Vom ersten Lohn habe ich mir ein Paar Ski und ein Velo gekauft. Und dann bin ich losgezogen, habe die Gegend erkundet. Ich bin schon immer z Bärg gegangen. Die halbe Schweiz besteht ja aus Bergen, das fasziniert mich sehr. Wandern ist Philosophie für mich, das gibt mir einen Sinn.

Zu Hause wandern

Wenn es zu kalt ist, marschiere ich daheim auf die Rigi. Wie? Ich setze mich auf einen Stuhl, binde mir mit Gummibändern einen Wecker ans Ohr, damit ich die Sekundenschläge höre. Dann ziehe ich mich an der Tür langsam hoch. Eins, zwei, drei, vier und wieder retour. Eine Viertelstunde schaffe ich so. Aber es ist sehr anstrengend. Das ist mein Training.

Früher habe ich oft bei einem Bauern auf Grubisbalm auf der Rigi übernachtet. Der ist ein Freund geworden. Mit der Stirnlampe bin ich abends los und habe dann bei ihm auf dem Sofa geschlafen. Um vier bin ich wieder los. 

Oben auf der Kulm gibt es zur Belohnung einen lauwarmen Milchkaffee und ein Stück Zuger Kirschtorte. Wenn noch eins übrig ist. Sie ist meistens schon ausverkauft. Aber wenn es noch ein Stück hat, ist das himmlisch.

Ich denke nur noch von Woche zu Woche. Für mich gibt es keine Zukunft, nur die nächste Woche. An meinem hundertsten Geburtstag werde ich nicht auf die Rigi steigen. Da haben meine Familie und Freunde etwas geplant, ein grosses Fest, ich weiss nicht so genau.

Mit Sicherheit kann ich aber sagen: Am schönsten für mich ist das Wohlgefühl, auf der Rigi zu sein. Das ist wie ein Orgasmus. Das können Sie einem Hundertjährigen glauben!» 

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Birthe Homann, Redaktorin
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