Toni Wirz, in wenigen Tagen brichst du von Irun an der französisch-spanischen Grenze auf, um über 800 Kilometer bis nach Santiago de Compostela in Spanien zu pilgern. Hast du schon gepackt? 
Ich bin dabei, die Sachen zurechtzulegen. Zum Glück habe ich schon etwas Erfahrung mit dem Packen: 2019 bin ich schon einmal fünf Wochen auf dem Jakobsweg gewandert, und zwar von Le Puy-en-Velay, mitten in Frankreich, bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port an der Grenze zu Spanien. Da hat sich die Pilgerregel bestätigt, dass der Rucksack höchstens 11 Kilogramm wiegen sollte, mit dem Proviant. Wobei: Essen habe ich jeweils nur wenig dabei. In den Pilgerunterkünften gibt es ein reichhaltiges Frühstück, so dass ich tagsüber nicht mehr so viel brauche.


Legst du jede Socke auf die Waage?
Nein, ich stelle den gepackten Rucksack auf die Waage und beginne wieder mit Auspacken. (lacht) Zum Glück gibt es heute gute Kleidung, die man selbst waschen und über Nacht trocknen kann. So reichen ein oder zwei Garnituren.


Auf welchen persönlichen Luxus verzichtest du nicht?
Meinen E-Reader. Und ein Notizheft, um Tagebuch zu führen. 


Du wirst fünf bis sechs Wochen zu Fuss unterwegs sein. Warum tust du dir das freiwillig an? 
Ich war schon immer ein Läufer, schon als Junger habe ich lange Wanderungen und Bergtouren geliebt. Wenn ich wandere, geht es mir gut. Und wenn es mir mal nicht so gut geht, tut mir das Wandern gut. Das hat für mich schon fast eine therapeutische Wirkung. Als ich pensioniert wurde, habe ich gemerkt, dass ich jetzt auch längere Strecken in Angriff nehmen kann. Ich wollte herausfinden, was es mit einem macht, wenn man so lange unterwegs ist. 


Und – was macht es mit dir? 
Das Gehen hat etwas Meditatives. Tagsüber hat man Zeit, sich mit den grossen Fragen des Lebens zu beschäftigen: Wo stehst du auf deinem Lebensweg? Was willst du noch erleben? Man ist allein, niemand kann einem diese Fragen beantworten. Man muss die Antworten in sich selbst suchen. 


Brichst du mit bestimmten Fragen auf? 
Nein. Während des Gehens werde ich leer, und es tauchen Erinnerungen und Fragen auf, denen ich nachsinne. Ich denke zum Beispiel oft an meinen Bruder. Er ist an Demenz erkrankt und lebt in einem Pflegeheim, es ist kein Gespräch mehr mit ihm möglich. Wir waren uns immer sehr nahe. Dieser Abschied beschäftigt mich sehr, und beim Wandern kann ich mich damit auseinandersetzen. Es ist, als würde er mich begleiten. Wir führen eine Art Zwiegespräch – und manchmal bekomme ich eine Antwort von ihm. 


Wie muss ich mir das vorstellen?
Manchmal taucht eine Erinnerung auf an etwas, was wir gemeinsam erlebt haben und was mich noch beschäftigt. Und auf einmal wird mir klar, worum es da gegangen ist.
 

«Meine Enkel haben mir gesagt, ich sei anders, als ich von der letzten Pilgerreise zurückkam.»

Toni Wirz, Pensionär und Ex-Chef des Beobachter-Beratungszentrums

Eine Studie konnte zeigen, dass Menschen ihr Leben nach einer Pilgerreise als sinnerfüllter einschätzen. Geht es dir auch so?
Wenn man so auf sich selbst zurückgeworfen ist, fragt man sich auch: Was trägt dich eigentlich im Leben? Auch wenn ich die Antwort darauf noch nicht gefunden habe, bin ich da und dort vielleicht etwas weitergekommen. Vielleicht werde ich etwas freier und gelassener in meinen Gedankengängen. Ich glaube, das merken auch meine Enkel: Sie haben mir jedenfalls gesagt, ich sei anders, als ich von der letzten Pilgerreise zurückkam. 


Wen triffst du unterwegs? 
Man trifft immer wieder Menschen, die einen Schicksalsschlag erlebt haben und ahnen, dass sie diesen beim Pilgern verarbeiten können. Eine ältere Frau hat mir anvertraut, dass sie in kurzer Zeit eine Tochter und ein Enkelkind verloren hat, was sie vollkommen aus der Bahn geworfen hat. Die meisten Pilger sind zwischen 65 und 80. Auch die Jüngeren sind gut vertreten. Das mittlere Alter weniger, die haben Verpflichtungen.


Planst du deine Reise genau oder läufst du einfach drauflos?
Ich reserviere keine Unterkünfte. Am Morgen weiss ich nie, mit wem ich den Abend verbringen und wo ich schlafen werde. Bis jetzt habe ich immer einen Platz zum Übernachten gefunden, auch wenn ich in Frankreich einmal über 40 Kilometer wandern musste, bis ich untergekommen bin. Eigentlich bin ich ein Mensch, der Strukturen braucht, auch im Pensionsalter lebe ich nicht einfach so in den Tag hinein. Aber auf dem Pilgerweg nehme ich den Tag einfach so, wie er kommt, das gehört für mich zum Erlebnis dazu. 

Wichtige Bestandteile des Reisegepäcks von Toni Wirz

Was auf keinen Fall fehlen darf: ein E-Reader, ein Notizheft, um Tagebuch zu führen und die Jakobsmuschel.

Quelle: Thomas Egli

Worauf freust du dich ganz besonders? 
Aufs Laufen! Und die wahnsinnig schöne Landschaft. Ich liebe das Meer und die Berge. 


Und wenn du nach sechs Wochen wieder nach Hause kommst, worauf freust du dich dann am meisten?
Auf meine Enkel. Und das Klavier. 

Pilgern im Trend – insbesondere auch dank Büchern

Der Pilger- und Weitwander-Boom hat nicht zuletzt mit Büchern zu tun:

  • Der deutsche Entertainer Hape Kerkeling hat in seinem Reisebericht «Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg» seine Erlebnisse niedergeschrieben und über 5 Millionen Mal verkauft.
     
  • Paulo Coelho begreift in seinem Tagebuch «Auf dem Jakobsweg» das Pilgern als eine spirituelle Reise ins Innere.
     
  • Die Schauspielerin und Schriftstellerin Shirley MacLaine schildert in «Der Jakobsweg» erstaunliche Visionen, die sie auf dem Weg nach Santiago de Compostela erlebt hat.
     
  • Cheryl Strayed hat mit ihrem autobiografischen Buch «Der grosse Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst» einen Bestseller gelandet: Sie war mit 26 so verzweifelt, dass sie allein über 1000 Meilen auf dem Pacific Crest Trail an der Westküste Amerikas wanderte.
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