«Vier, drei, zwei, eins ...», zählt Ramon*, dann legen er und Adina* los. «Es war einmal ein Kind. Das ist eines Tages in den Wald gegangen ... » fangen die beiden 5. Klässler gemeinsam laut zu lesen an; zu zweit aus einem Ordner, der vor ihnen auf dem Pult liegt. Ramon ist der «Sportler» und gibt das Tempo vor, Adina ist der «Trainer» und fährt mit dem Finger mit. Wenn Ramon ein Wort falsch ausspricht, lässt Adina es ihn wiederholen, notfalls korrigiert sie ihn. Die anderen 20 Kinder im Raum machen es genauso. Immer zu zweit lesen sie laut einen Text. Das ganze Klassenzimmer ist ein Gewirr aus Stimmen.

An der Primarschule Ahorn in Zürich Schwamendingen wird drei Mal pro Woche 20 Minuten so Lesen geübt. Jedes Jahr über drei Monate, von der zweiten bis in die sechste Klasse. Schulleiterin Gabriella Zürcher sagt: «Ich bin überzeugt: Würde man das in allen Schulen so machen, gäbe es signifikant weniger Kinder, die schwach im Lesen sind.»

Noch nie so viele schwache Leser

Es ist ein ungewohnt selbstbewusster und optimistischer Satz für eine Pädagogin in diesen Tagen. Denn in Sachen Lesen befindet sich das Schweizer Bildungswesen in einer Sinnkrise: Ein Viertel aller 15-Jährigen versteht selbst einfache Texte nicht, zeigt die jüngste Pisa-Studie. Das sind so viele wie nie zuvor. 2000, bei der ersten Erhebung, betrug ihr Anteil noch einen Fünftel – und auch das ist schon zu viel. Diese Jugendlichen können einer Packungsbeilage häufig nicht entnehmen, ob sie die Kopfwehtablette Schmerzmittel Oft das falsche Rezept einnehmen dürfen, und wenn sie einen Handy-Vertrag abschliessen, müssen sie ganz auf die Versprechen des Verkäufers vertrauen. Das nach neun Jahren Schule.

Die meisten Bildungsexperten scheinen mit ihrem Deutsch am Ende. Die Reaktionen auf Pisa wirken ratlos und altbekannt. Wir sollen mehr Bücher lesen und weniger Netflix schauen, mahnen Zeitungsartikel. Es brauche weniger Fremdsprachenunterricht und kleinere Klassen, kritisieren Lehrer und Eltern. Reformkritiker fordern eine Abkehr vom integrativen Schulmodell und die Rückkehr zu Sonderklassen für Schwächere. Vor allem aber sei Frühförderung wichtig, betonen Politikerinnen und Pädagogen, denn: «Der Einfluss der Schule beim Lesen ist relativ gering. Die Familie, die Kita, die täglichen sozialen Kontakte prägen die Entwicklung sprachlicher Kompetenz viel stärker», so der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich. Damit unsere Kinder besser lesen lernen, müsste sich also ganz viel ändern und zwar grundlegend.

Zu langsam, um zu verstehen

Bei der Schule Ahorn ist man anderer Meinung – und bekommt Unterstützung aus der Wissenschaft. «Die Schule kann mehr beitragen, als viele meinen. Lesen lernen ist komplex, wir sollten aber das Naheliegende und Machbare nicht aus den Augen verlieren», sagt Afra Sturm Rechtschreibung «Mehr Gelassenheit wäre angebracht» , Leiterin des Zentrums Lesen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW.
 

«Nötig wären regelmässige Weiterbildungen für alle Lehrpersonen.»

Sabine Kutzelmann, Lesedidaktikforscherin


Sie verweist auf eine Erkenntnis, die in der Debatte um Pisa eher wenig thematisiert worden ist. So haben die schwachen Leser bereits mit der Lesetechnik Mühe, also mit dem Lesen selbst. Pisa hat erstmals auch erhoben, wie sicher und fliessend jemand lesen kann. Noch sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht, dennoch wagt Sturm die Prognose: Die Nichtversteher haben auch dort schlecht abgeschnitten. Oder besser umgekehrt. «Wer Mühe hat mit dem Entziffern, wer sich oft verliest, kann sich nicht auf den Sinn des Geschriebenen konzentrieren.»

Zur Illustration legt sie einen Text vor, der mit spiegelverkehrten Buchstaben Illettrismus Das Chaos mit den Buchstaben und von rechts nach links geschrieben ist. Als geübter Leser bringt man die einzelnen Wörter zwar mit Müh und Not zusammen, was man gelesen hat, weiss man aber nicht. «Man kann sich nicht mehr an den Anfang des Satzes erinnern, weil das Lesen zu lange gedauert hat», sagt Sturm. Dem Grossteil der gemäss Pisa schwachen Leser geht es auch bei normalen Texten so.

100 Wörter pro Minute – mit Hilfe der Tandem-Methode

Hier setzt das Lesetraining der Schule Ahorn an. «Vier, drei, zwei, eins ...», zählt Ramon, dann lesen er und Adina den gleichen Text zum zweiten Mal. Beim sogenannten Tandem-Lesen geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um Tempo und Lesefluss. Die schnelleren Kinder übernehmen die Rolle des «Trainers», die langsameren sind die «Sportler». Jeder Text wird viermal gelesen, dann geht es weiter zum nächsten. Ziel ist: Jeder Schüler und jede Schülerin soll Ende der 4. Klasse fähig sein, mindestens 100 Wörter pro Minute laut zu lesen. Erst ab dieser Geschwindigkeit kann das Gehirn den ganzen Inhalt eines längeren Satzes erfassen, haben Studien gezeigt.

Entwickelt und erforscht hat die Tandem-Methode ein Team um die deutsche Leseforscherin Cornelia Rosenbrock im Jahr 2006. Indem die Schüler den gleichen, kurzen Text mehrmals lesen, prägen sich die Wörter in den sogenannten Sichtwortschatz ein. Das sind jene Wörter, die man auf den ersten Blick erkennt, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Je mehr es sind, desto besser. Das Prinzip ist dasselbe wie beim lauten Lesen im Chor, das bis in die 70er Jahre weit verbreitet war, im Gegensatz zum Tandem-Lesen aber kaum auf das einzelne Kind eingeht. Mit der richtigen Betonung entwickeln die Schüler zudem ein Gefühl für den Satzaufbau – die Grundlage, um den Inhalt eines Satzes zu verstehen.

Auch die Guten werden besser

«Die Schülerinnen und Schüler machen enorme Fortschritte», sagt Schulleiterin Zürcher. Fortschritte, die die Kinder selber an Zahlen festmachen können. Vor und nach einer dreimonatigen Trainingseinheit prüft die Lehrerin alle einzeln. Manche schaffen beim zweiten Test bis zu 60 Wörter pro Minute mehr. Und nicht nur die Sportler verbessern sich, sondern auch die Trainer. «Alle Schülerinnen und Schüler profitieren», sagt Zürcher.
 

«Was nützt das tollste Buch aus der Bibliothek, wenn das Lesen selbst so mühsam ist?»

Afra Sturm, Zentrum Lesen FHNW


Die Besten lesen Ende der sechsten Klasse mehr als 150 Wörter pro Minute. Gut die Hälfte schafft 130 bis 140, so viel wie eine durchschnittliche erwachsene Leserin. Das Ziel von 100 Wörtern erreichen alle. Ausgenommen sind nur jene wenigen Kinder, die eine Leseerwerbschwäche haben.

Für die Schule Ahorn ist das ein grosser Erfolg. Ein Grossteil der Schülerinnen und Schüler stammt aus eher bildungsfernen Familien Chancengleichheit in der Schule «Ihr Egoisten» , viele haben einen Migrationshintergrund. Solche Kinder gehören deutlich öfters zur Gruppe der schwachen Pisa-Leser als ihre privilegierten Mitschüler. «Beim Dekodieren einzelner Buchstaben haben sie noch kaum Probleme. Wenn es aber darum geht, die Lesetechnik im Alltag zu üben, haben sie Nachteile, da schriftliche Texte und Geschichten zuhause kaum vorkommen», sagt Schulleiterin Zürcher. Mit dem Tandem-Lesen springt die Schule ein.

Lautlesetraining noch zu wenig bekannt

«Vier, drei, zwei, eins ...» Noch lehren wenige Schulen in der Schweiz derart systematisch fliessend zu lesen. «Viele Lehrerinnen und Lehrer kennen insbesondere die theoretischen Grundlagen des Lautlesetrainings noch gar nicht», sagt Sabine Kutzelmann, Dozentin für Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Mittlerweile sei das Tandem-Lesen zwar fester Bestandteil der Ausbildung. Damit es aber in den Schulen umgesetzt wird, müssten Berufseinsteiger und erfahrene Lehrpersonen zusammenarbeiten.

Beim Lautlesetraining sollte möglichst die ganze Schule mitmachen und es sollte in allen Klassen gleich ablaufen. «Nötig wären darum regelmässige flächendeckende Weiterbildungen für alle Lehrpersonen.» Ob und wie schnell wissenschaftliche Erkenntnisse auch in die Weiterbildung von Lehrpersonen einfliessen, hänge vom bildungspolitischen Willen der Kantone und der Volksschulämter ab.

Nicht beliebt, aber effektiv

«Am Anfang ist der Aufwand Kantone im Vergleich Sind teure Schüler wirklich besser? für das Tandem-Training ziemlich hoch, einmal etabliert aber nicht mehr», sagt Ahorn-Schulleiterin Zürcher. Manchmal müsse man auch Vorurteile abbauen. So empfänden manche Lehrerinnen das strukturierte Üben als Drill und Paukerei, weit weg von Konzepten, die auf Eigenmotivation der Schüler aufbauen und ihnen Freiheiten geben.

«Lautlesetraining ist nur Teil einer umfassenden Leseförderung in der Schule», sagt Afra Sturm von der FHNW. Oft werde es aber vernachlässigt. Die meisten Schulen hätten in den vergangenen Jahren viel gemacht, um die Freude am Lesen zu steigern. Und die Lehrmittel seien voll mit Lesestrategien, Tipps und Tricks, wie man Texte besser erschliessen kann. Beides sei gut und wichtig. «Was aber nützt die beste Strategie oder das tollste Buch aus der Bibliothek, wenn das Lesen selbst so mühsam ist?»

Das Tandem-Lesen ist bei den Kindern mässig beliebt, zeigt eine Umfrage, die Schulleiterin Zürcher einst für ihre Masterarbeit durchgeführt hat. Weniger als einem Drittel von 193 befragten Kindern macht das Training Spass. Vier Fünftel aber geben an, ihre Leseflüssigkeit habe sich verbessert. Und zwei Drittel sagen, sie verstehen jetzt besser, was sie lesen. Über die Hälfte hat seit dem Training sogar insgesamt mehr Freude am Lesen. Sportler Ramon jedenfalls zögert nicht und zählt zum vierten Mal an: «Vier, drei, zwei, eins ...» und weiter geht's noch mal von vorne.

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