Sie wollten Lehrlinge ausbilden, aber sie konnten nicht. «Uns fehlte die Zeit und das Wissen», sagt Tabea Wiskin vom Hort Auzelg in Zürich. Als die Stadt Zürich dann vor zwei Jahren ein Modell mit mobilen Stiften vorstellte, zögerte sie keine Sekunde. Heute bildet die Kindergärtnerin zwei Lehrlinge aus und hat grosse Freude daran: «Es macht mich stolz zu sehen, wie sie sich entwickeln und wie sie immer professioneller handeln.»

«Endlich, wir haben einen Stift!», jubelte man auch bei der Gebäudetechnikfirma Sada in Wallisellen. Nach über 100-jähriger Firmengeschichte war vor einiger Zeit plötzlich der Polybauer-Nachwuchs ausgeblieben. «Zum ersten Mal mussten wir sogar Lehrstellen offenlassen», erzählt Bereichsleiter David Harder. Die Lehrstellen sind heute wieder besetzt. Die Sada AG bildet drei Polybaupraktiker aus.

Das Aussergewöhnliche bei beiden Betrieben: Ihre Lehrlinge haben ihren Vertrag nicht mit den Firmen abgeschlossen, sondern mit dem Berufslehrverbund Zürich (BVZ). Der Stiftung gehören aktuell 188 Betriebe an, in denen 226 Lehrlinge ihre Ausbildung absolvieren. Das Konzept: Die Lernenden beschränken sich nicht auf einen Ausbildungsplatz, sondern arbeiten jedes Jahr an einem anderen Ort. Damit sie ins nächste Jahr vermittelt werden können, müssen die Leistungen im Betrieb und in der Schule stimmen.

«Ich würde am liebsten bleiben»

Jedes Jahr eine neue Lehrstelle – der Alptraum jedes Lehrlings, müsste man meinen. «Anfangs war mir nicht ganz klar, worauf ich mich da einlasse. Aber mittlerweile kenne ich die Unterschiede zwischen einer herkömmlichen und einer BVZ-Lehre – und würde mich wieder gleich entscheiden», versichert Milena Antic. Die Fachfrau Kinderbetreuung bestreitet ihr zweites Lehrjahr im Hort Auzelg. Sie sieht im alljährlichen Wechsel sogar einen Vorteil: «Ich hatte immer Angst, mich schon nach kurzer Zeit in einem Betrieb zu langweilen. Deshalb ist dieses Konzept wie geschaffen für mich.» Im Moment sieht sie dem bevorstehenden Betriebswechsel allerdings nicht so locker entgegen: «Mir gefällt es hier sehr gut, ich würde am liebsten bleiben.»

Das Modell mit den «Flexi-Stiften» bringt natürlich auch verschiedene Ansprechpersonen mit sich. Bei Milena Antic ist das momentan Berufsbildnerin Tabea Wiskin, die für fachliche Fragen im Hort zuständig ist, sowie Prisca Erb, Kontaktperson beim BVZ. Mit ihr bespricht die 20-Jährige die schulischen Anliegen und den weiteren Verlauf der Lehre. Hinzu kommen die Lehrer an der Berufsschule, mit denen sie jede Woche zu tun hat. Milena Antic sieht das positiv: «Wenn ich eine schriftliche Dokumentation verfassen muss, sende ich die Arbeit nicht nur meiner Berufsbildnerin, sondern auch noch an Frau Erb vom BVZ und erhalte so zwei Feedbacks.»

Das Modell der mobilen Stifte ist ein Mosaikstein im Berufsbildungssystem, das zwar genügend Lehrstellen anbietet, doch nicht immer am richtigen Ort. Im vergangenen August gab es schweizweit 90'000 Lehrstellen, aber nur 83'000 wurden besetzt. Zugleich sind rund 22'000 Junge zwischen 15 und 24 Jahren ohne Arbeit. Der Grund: Das Angebot entspricht nicht der Nachfrage. Das hat auch die Denkfabrik Avenir Suisse in einer aktuellen Studie festgestellt. Es gibt dreimal mehr industrielle und gewerbliche Ausbildungsplätze als Angebote im Dienstleistungsbereich. Und auch dort herrscht ein Ungleichgewicht, weil Verkaufs- und KV-Berufe dominieren. Das Angebot in Beratung, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Gesundheit ist hingegen zu klein.

Schlaflose Nächte: Wohin mit dem Lehrling?

«Dem versuchen wir entgegenzuwirken, indem wir dort Lehrstellen schaffen, wo sie gefragt sind», erklärt Manfred Fasel, Geschäftsführer des BVZ. Vor allem Ausbildungsplätze in der Kinderbetreuung und im Gesundheitswesen seien beliebt, aber selten. Auch die Nachfrage nach zweijährigen Lehren, etwa als Küchen- oder Hotelleriefachangestellte oder Polybaupraktiker, steige kontinuierlich an. Um die Vielfalt der Angebote zu steigern, hat der BVZ vor zehn Jahren sein Konzept aufgebaut. Und damit auch eigene Lehrstellen entwickelt, wie etwa die «Fachperson Generalist», bei der die Lernenden jeweils ein Jahr im Alters-, Kinder- und Behindertenheim arbeiten. «Unsere Stärke liegt darin, ein Gesamtbild eines Fachbereichs zu vermitteln», so Fasel. «Das wäre in nur einem einzigen Lehrbetrieb gar nicht zu schaffen.»

Doch das Konzept hat auch seine Tücken. Der BVZ-Leiter erinnert sich an manche schlaflose Nacht, in der er nicht wusste, wohin mit einem Lehrling. «Doch dank meinem guten Beziehungsnetz habe ich noch immer eine Lösung für ‹meine 226 Kinder› gefunden.»

Dank diesen Beziehungen und dem aufwendigen Rotationskonzept ermöglicht der BVZ auch kleinen und mittelgrossen Unternehmen, Lehrlinge auszubilden – wie etwa der Aurora Gebäudereinigung. «Das Tagesgeschäft lastet uns stark aus. Da ist es unmöglich, sich mit jeder kleinen Veränderung der Ausbildung zu beschäftigen», erklärt Nora Bräm, kaufmännische Leiterin von Aurora. Auch für Tabea Wiskin vom Hort Auzelg war es entscheidend, dass der BVZ den Lehrbetrieb von sämtlichen administrativen und schulischen Aufgaben entlastet. «Ich hatte grossen Respekt vor der Aufgabe, einen Lernenden auszubilden», sagt die 30-Jährige. Dass ihr der BVZ mit Rat und Tat zur Seite stehen würde, machte es ihr letztlich leicht, den Versuch zu wagen.

Damit ist die Hortnerin in guter Gesellschaft: Der Lehrverbund wächst in allen Bereichen. Früher konnte Geschäftsleiter Fasel noch jedem Lehrling eine kleine Aufmerksamkeit zum Diplom schenken. Heute muss er sich darum bemühen, den Überblick nicht zu verlieren. Im Vorzimmer seines Büros hängen deshalb bunte Plakate, nach Lehrberuf geordnet, mit Porträts aller 226 Lernenden. Typische Schweizer Namen sind selten bei der Stiftung BVZ. Kein Zufall, denn Vorurteile gegenüber ausländischen Jugendlichen sind noch immer ein grosses Problem bei der Lehrstellensuche.

«Wir waren anfangs nicht sicher, wie Jugendliche mit Sprachdefiziten die Schule meistern würden», räumt David Harder ein, der Lehrlingsverantwortliche der Sada AG. «Dann haben wir uns entschieden, es einfach auszuprobieren – und nun sind wir begeistert.» Immer wieder wurde er aufs Neue darin bestätigt, dass die Vorgeschichte zweitrangig ist – und nur der Wille und der Einsatz zählen.

«Das ‹böse -ic› in meinem Namen»

Mit Vorurteilen war auch die Auzelg-Lernende Milena Antic konfrontiert, die in der Schweiz geboren ist, lupenreines Zürichdeutsch spricht und bei der noch nie eine Note unter einer Fünf im Lehrzeugnis stand: «Ich habe das ‹böse -ic› in meinem Namen. Das war ein grosses Hindernis bei der Stellensuche.»

Das ging so weit, dass sie in einem Betrieb nach offenen Lehrstellen fragte und eine negative Antwort erhielt, während ihrer Schweizer Freundin zwei Minuten zuvor gesagt wurde, es sei noch eine Stelle frei. Beim BVZ dagegen zählt vor allem die Leistung im Bewerbungsverfahren – «wie das in einer offenen, fairen Gesellschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte», sagt die 20-Jährige.

Auch BVZ-Leiter Manfred Fasel stellt klar: «Wir sind keine soziale Einrichtung. Wir suchen nach Jugendlichen, die vollen Einsatz geben und ihre Chance nutzen – nach richtigen Perlen.» Dabei sei es egal, ob diese Perle eine krumme Nase habe, aus dem Balkan stamme oder früher schlechte Noten in der Schule hatte. Geschenkt wird beim BVZ niemandem etwas, das Auswahlverfahren ist streng. Von den jährlich 1000 bis 2000 Bewerberinnen und Bewerbern werden lediglich 300 zum Vorstellungstag eingeladen. Erst nach einem Intelligenz- und einen Neigungstest sowie einer Gruppenarbeit geht es zum eigentlichen Vorstellungsgespräch. Letzten Sommer blieben so 95 Jugendliche übrig, die einen Lehrvertrag erhielten. Die strenge Selektion zahlt sich am Ende aus: Im vergangenen Jahr haben 60 von 62 Lernenden die Lehrabschlussprüfung bestanden – mit einer Durchschnittsnote von fast einer Fünf.

Und das BVZ schafft nachhaltig Lehrstellen: Der Hort Auzelg etwa wird nächstes Jahr «erwachsen» und bildet ohne Hilfe des BVZ Lehrlinge aus. «Die Stütze des BVZ war eine phantastische Hilfe, doch nun haben wir genug gelernt. Wir sind eigenständig geworden», sagt Tabea Wiskin. Für die Lehrstellenpolitik der Zukunft sind das gute Nachrichten – für BVZ-Leiter Fasel kurzfristig eher weniger: Er wird wieder auf Lehrstellensuche gehen müssen.