Marokko leuchtet bunt wie ein Mosaik und verzaubert die Besucher mit seiner warmherzigen Gastfreundschaft.» So lockt die «Schweizer Familie» mit einer zwölftägigen Leserreise ins «märchenhafte Morgenland». Ein Visum für Marokko ist für Schweizer Staatsangehörige nicht nötig, dafür «gute Trittsicherheit und solide Wanderschuhe». Und 4980 Franken. Im Doppelzimmer.

Die offizielle Schweiz dagegen ist zwar weder warmherzig noch gastfreundlich. Aber trittsicher, das ist sie. Wenn ein Marokkaner neun Tage Sommerferien in der Schweiz verbringen will, verweigert unsere Botschaft in Rabat ihm nach einem zeitaufwendigen, teuren und letztlich sinnlosen bürokratischen Hürdenlauf kurz vor dem Abflug das Visum (der Beobachter berichtete ).

Rashids Geschichte wiederholt sich täglich auf den Visa-Abteilungen. Eine Leserin klagt: «Es gibt noch mehr arrogante Schweizer Botschaften. Jene im Oman zum Beispiel, dort sind die Benelux-Staaten, die Schweiz und Liechtenstein zusammengeschlossen. Ich musste alle Dokumente in Englisch verfassen, um einen Freund für Ferien in die Schweiz einzuladen. Das Visum wurde zweimal abgelehnt, obwohl er einen Job hatte und ich für alles bürgte. Wissen Sie, in welcher Sprache die Antwort kam? In Holländisch. Die Schweizer denken noch immer, dass alle hierbleiben wollen. Das ist aber nicht so.»

Die Lösung: Einreise via Deutschland

«Die Schweizer haben keine Ahnung, was ihre Botschaften im Ausland tun», sagt ein Antragsteller aus dem Balkan. Er wollte mit Frau und Tochter Ferien in Zürich verbringen. Im Sommer. Die Beamtin stellte viele Fragen, kassierte die Gebühren – und gab ein Visum für den Herbst. Dann aber sass die Tochter in der Schule. Er habe der Botschaft zu wenig Zeit für die Behandlung des Visums gegeben, so die Beamtin – obwohl sie die Reisedaten von Anfang an kannte.

Die Familie reiste dennoch ein. Via Deutschland. «Die deutsche Botschaft war weniger bürokratisch. Und die Schweiz musste das Schengen-Visum akzeptieren.» Das Schengen-Visum gilt für fast ganz Mittel- und Nordeuropa, Schweiz inklusive.

«Was Sie hier schildern, ist offenbar die Normalität für den Unrechtsstaat Schweiz», schreibt ein Leser. «Diese schamlose, arrogante Willkür hätte ich nie auch nur im Entferntesten vermutet, bis es mir selbst passierte. Mein Fall ist bis ins Detail identisch mit dem von Ihnen geschilderten. Der einzige Unterschied ist, dass es sich bei der betroffenen Gesuchstellerin um meine Schwiegertochter handelt, aber sonst stimmt alles eins zu eins überein: das widerliche Formular mit den Kreuzchen, die Einsprache mit den 200 Franken und so weiter.»

In seiner Not schaltete der Leser den Ombudsmann Ombudsstellen Hier finden Kunden Hilfe ein – das Visumsgesuch für die Schwiegertochter ist weiterhin hängig. «Was hier inszeniert wird durch die zuständigen Instanzen, spottet jeder Beschreibung und liess mich, im Alter von 75 Jahren, den Glauben an den Rechtsstaat Schweiz verlieren», so der Leser.

14 eingeschriebene Briefe

Ein Mann aus Biel erhob Rekurs gegen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM). Er hatte Erfolg damit. Die Vorschüsse über 1000 Franken wurden ihm nach Ende des monatelangen Verfahrens zurückbezahlt. Es blieben 14 eingeschriebene Briefe, 82 Seiten Korrespondenz von ihm ans SEM und 62 Seiten ans Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, bis es das SEM zurückpfiff.

Auch dieser Leser ist erzürnt. «Als unbescholtener Staatsbürger, der vorgängig Lohn und Vermögen offengelegt, Reiseversicherung samt Krankenkasse bezahlt und sich bereit erklärt hatte, allenfalls einen fünfstelligen Betrag à fonds perdu zu leisten, fühlte ich mich in einer kafkaesken Situation gefangen.»

In Kolumbien musste der Schwager eines Schweizers von der Karibikküste in die Hauptstadt Bogotá fliegen, dort drückte man ihm die Ablehnung in die Hand. «Seine Ferien bei uns haben dann nicht stattgefunden», schreibt ein Leser aus dem Kanton Zug. Ebenso wenig durfte die Schwiegermutter, damals über 80, in die Schweiz. Inzwischen wurde die Visumspflicht für Kolumbien aufgehoben. «Unsere Verwandten besuchen uns seither immer wieder, und wir geniessen es sehr, nicht mehr der dilettantischen, überheblichen Willkür einer Schweizer Botschaft zu unterliegen.»

Pro Tag zwölf Anfragen

In den letzten drei Jahren nahm die Botschaft in Marokko jeweils rund 3500 Anträge entgegen, pro Arbeitstag also etwa ein Dutzend. Die Zahl der Gesuche blieb etwa gleich, man lehnte aber mit jedem Jahr mehr Anträge ab. 2017 war es jeder achte, letztes Jahr wurde jedem vierten bis fünften Marokkaner und etwa jeder sechsten Marokkanerin der kurzfristige Aufenthalt in der Schweiz verwehrt.

Der Beitrag im Beobachter empörte auch die Migrationsbehörde SEM in Bern. Sie hatte auch in zweiter Instanz dem Marokkaner Rashid die Einreise verwehrt – mit der Begründung, der 45-jährige Ladenbesitzer sei ein «ungebundener Mann». SEM-Sprecher Daniel Bach fand kein Wort des Bedauerns für die unhöfliche Art und Weise, wie Eingeladene abgewimmelt werden. Ihn ärgerte bloss, dass der Beobachter den Namen eines SEM-Beamten genannt hatte.

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René Ammann, Redaktor
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