Eine Busse von 6000 Franken oder 60 Tage Freiheitsentzug? Wenn Simone Schenk hätte wählen dürfen, wäre sie ins Gefängnis gegangen. Wenigstens für ein paar Tage. Dann wäre die Gemeinde Wohlen bei Bern dafür verantwortlich gewesen, dass eine 91-Jährige hinter Gittern sitzt.

Simone Schenk trägt ein goldenes Schlänglein um den Arm und hat Kampfgeist in den Augen. Sie steht auf dem Balkon, in der Hand ein Fernglas. Das Corpus Delicti, den Wärmetauscher auf dem Dach ihrer Garage, sieht man von hier aus nicht. Dafür einen Silberreiher, der durchs Schilf stakst.

Jeden Morgen beobachtet die Architektin das Naturschutzgebiet am Wohlensee. Wegen der Aussicht ist sie überhaupt hier. Hier in Wohlen bei Bern. Vor 40 Jahren hat sie sich in diesen Flecken verliebt. Hier hat sie ihrer Familie ein Haus gebaut. Hier streitet sie seit 40 Jahren immer wieder mit der Baukommission.

«An den Haaren herbeigezogen»

Simone Schenk lässt das Fernglas sinken. Der Reiher wird auch morgen im Schilf stehen. Sie hat jetzt eine Geschichte zu erzählen. Auf dem Stubentisch liegt bereits der aufgeschlagene Ordner. Darin hat sie ihren Streit fein säuberlich dokumentiert. «Ich lasse mich nicht gern in die Knie zwingen. Dann stehe ich auf die Zehenspitzen», sagt die neunfache Grossmutter und zweifache Urgrossmutter.

200 Zentimeter lang, 80 breit und 120 hoch ist das jüngste Streitobjekt: ein Wärmetauscher für ihre neue Heizung. Das Vergehen? Das Gerät stand schon auf dem Garagendach, als die Wohlener Baukommission noch überlegte, ob sie es da überhaupt haben wollte. Weniger lang hatte der Lieferant überlegt, als er den Wärmetauscher kurzerhand aufs Dach hievte. Dort stand es keinem im Weg. Das war im Sommer 2015. Ein Verstoss gegen baupolizeiliche Massnahmen, fand die Bauabteilung der Gemeinde Wohlen. «Übertrieben und an den Haaren herbeigezogen», fand Simone Schenk.

«Offene Worte kommen nicht immer gut an. Doch ich kann sie mir einfach nicht verkneifen.»

Simone Schenk

Sie muss es wissen. Über Baubewilligungen hat sie selber schon entschieden. In den siebziger Jahren. Als erste Frau in der Wohlener Baukommission. Bereits nach vier Jahren war aber Schluss.

«Ich hatte die Machenschaften eines Gemeinderats und Spekulanten öffentlich gemacht, der denkmalgeschützte Häuser aufkaufte und abreissen liess. Darauf wurde ich nicht mehr gewählt. Offene Worte kommen nicht immer gut an. Doch ich kann sie mir einfach nicht verkneifen», sagt sie.

Der Wärmetauscher auf dem Garagendach wurde dann doch bewilligt. Aber vier Monate später kam per Post der Strafbefehl. Drei Tage vor Weihnachten. Simone Schenk nahm sich einen Anwalt und erhob Einsprache. Im Sommer 2016 sprach sie das Regionalgericht Bern-Mittelland schuldig. Sie kämpfte weiter und legte letzten Februar Berufung ein.

Simone Schenk ist eine Kämpferin. Als Kind bekam sie mit, wie ihr Grossvater mit Trotz und Selbstbewusstsein gegen das katholisch-konservative Establishment antrat. Es war Martin Gamma, Nationalrat für den Kanton Uri. «Von ihm und von meinem Vater, der als Chef der Landestopografie ein träges Amt in Schwung brachte, habe ich meinen Gerechtigkeitssinn. Und der ist ausgeprägt.»

Wischiwaschi bei der Ästhetikklausel

Aus dem Ordner zieht Simone Schenk einen Entwurf, den sie der Wohlener Baukommission vorgelegt hatte. Ein Vorschlag für Kunst am Bau am Wärmetauscher. In Rohform sieht er nicht besonders schön aus, «halt so, wie ein rein technisches Gerät eben aussieht», sagt sie. Das war das initiale Problem. Gemäss der Ästhetikklausel im Berner Baugesetz ist Unschönheit ein Grund, die Bewilligung zu verweigern.

Auf die Klausel ist sie nicht gut zu sprechen. «Sie darf nicht willkürlich angewendet werden», sagt Schenk. Zu oft werde sie als Grund vorgeschoben, um Bauvorhaben zu verhindern. Besonders in der Gemeinde Wohlen. Und besonders, wenn sie die Bauherrin sei.

Bei den zwei Häusern, die sie Anfang der achtziger Jahre für ihre Kinder baute, war der Gemeinde die Fassadenmalerei zu bunt. Angeblich. Mit einem schnellen Hinweis auf die Ästhetikklausel verhängte die Baukommission einen sofortigen Baustopp. Auch um die Fassaden kämpfte Simone Schenk. Mit Erfolg. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste die Gemeinde zurückkrebsen. Der Baustopp wurde rückgängig gemacht.

Wärmetauscher auf Dach

Der Wärmetauscher auf dem Dach der Garage darf bleiben.

Quelle: Marco Zanoni

Schwieriger war es bei ihrem Herzensprojekt. Ihr allerletztes Haus wollte sie direkt an den geliebten Wohlensee bauen. Sie durfte nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie wollte. Wieder wurde auf die Ästhetikklausel verwiesen. Das Dach sei zu rund, das eingeschossige Haus für die Uferzone zu turmhaft. Sieben Jahre kämpfte sie – bis vor das Verwaltungsgericht. Und verlor. Damals war sie 80. Ihr Kampfgeist war beinahe besiegt.

Sie lacht. «Ich habe mir geschworen, nie mehr etwas mit der Baukommission zu schaffen zu haben. Aber dann beanstandete die Gemeinde meine Ölheizung.» Schenk teilte den Behörden mit, dass sie nicht nur den Ölbrenner ersetzen, sondern das ganze Haus energetisch sanieren wolle. Und erneut musste sie kämpfen. Wieder einmal gegen die Ästhetikklausel und die Baukommission Wohlen.

Im Dorf mag man sie

Doch dieses Mal gelang ihr der Befreiungsschlag. Ende August sprach das Obergericht des Kantons Bern sie von sämtlichen Vorwürfen frei. Sie hatte recht gehabt: Der Wärmetauscher auf dem Garagendach hat nicht gegen das Baugesetz verstossen – und die Baukommission Wohlen hat überreagiert.

Im Dorf ist die Architektin trotzdem beliebt. «Wohlen wäre ohne Simone Schenk nicht Wohlen», sagt Gemeindepräsident Bänz Müller. Gerade erst habe sie verhindert, dass die Kantonspolizei Bern ein Bootshaus auf die Lieblingswiese der Gemeinde stellte. Sie hat Einsprache erhoben und gleich einen eigenen Entwurf präsentiert. Die Kantonspolizei willigte ein.

«Wer motzt, muss auch liefern. Sonst würde ich es mir doch zu einfach machen.» Simone Schenk klappt den Ordner zu. Sie kann sich jetzt wieder ganz ihrem See widmen. Deswegen ist sie schliesslich hier.

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Raphael Brunner, Redaktor
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