Erwärmung: Höchstens zwei Grad liegen drin

Seit 1880 ist die weltweite Temperatur um 0,85 Grad gestiegen, allein seit 1950 um etwa 0,5 Grad. Besonders die starke Erwärmung in der Nachkriegszeit ist nicht mehr mit natürlichen Klimaschwankungen erklärbar – verantwortlich dafür sind zum grössten Teil Treibhausgase, die bei der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas entstehen. Wissenschaftler halten einen Temperaturanstieg von maximal zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter für einigermassen verkraftbar; was darüber liegt, würde zu drastischen Umweltveränderungen führen.

Die internationale Staatengemeinschaft – und damit auch die Schweiz – setzte sich deshalb 2010 das «Zwei-Grad-Ziel». Laut Weltklimarat ist es allerdings nur erreichbar, wenn der heutige Ausstoss von Treibhausgasen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent sinkt – tatsächlich gelangen aber immer mehr Treibhausgase in die Erdatmosphäre. Ende November 2015 trifft sich die Staatengemeinschaft in Paris zur Uno-Klimakonferenz, um eine neue Klimaschutzvereinbarung zu verabschieden.

Gleissend steht die Sonne über dem Rhonetal, heizt die Berghänge auf, treibt den Menschen unten im Talkessel Schweissperlen auf die Stirn. Sion, Wallis, Juni. Stadtplaner Lionel Tudisco sitzt im Schatten eines japanischen Kirschbaums auf der Espace des Remparts. Das Thermometer hat heute die 25-Grad-Marke um 14 Uhr erklettert, Tudisco blickt kurz hoch, blinzelt in die Sonne. «Viele Leute glauben, der Klimawandel sei etwas, das uns irgendwann vielleicht mal bevorstehe. Dabei stecken wir schon mittendrin.»

Die Messdaten, die in der Schweiz seit über 150 Jahren zuverlässig erhoben werden, stützen Tudiscos Befund. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Trend eindeutig: Die Durchschnittstemperatur in der Schweiz steigt stetig an, seit den Achtzigerjahren in immer grösserem Tempo. Die Nullgradgrenze im Winter ist seit den Sechzigerjahren um etwa 300 Meter gestiegen, die Luft im Sommer ist heisser geworden, wodurch sie mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann – bis sie sich in gewaltigen Unwettern entlädt.

Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Das zeigen Szenarien, die mehrere wissenschaftliche Institute unter der Federführung der ETH Zürich und des Bundesamts für Meteorologie und Klimatologie erstellt haben. Sie gehen davon aus, dass es in der Schweiz ohne globale Klimaschutzmassnahmen bis zum Ende dieses Jahrhunderts um 2,7 bis 4,8 Grad wärmer wird. 

Quelle: Lisa Harand

Die Konsequenzen: im Mittelland eine massive Zunahme an Sommertagen mit Temperaturen von 25 Grad. Im Tessin ein Anstieg von Tropennächten, in denen die Temperatur nicht unter 25 Grad fällt. In den Bergen mehr Lawinen und Murgänge. Im Frühling mehr Überschwemmungen, weil Niederschlag als Regen fällt statt als Schnee. Im Sommer dafür Wasserknappheit, weil öfter längere Trockenperioden auftreten. Dazu eine veränderte Biodiversität – Tiere und Pflanzen müssen sich teilweise neue Siedlungsräume suchen, neue Arten ziehen zu, werden womöglich zum Problem der einheimischen Fauna und Flora.

Quelle: Lisa Harand

Der Bund fährt eine Doppelstrategie, um mit diesen Veränderungen fertigzuwerden. Einerseits soll die Schweiz ihren Beitrag zur Reduktion der Treibhausgase leisten. Andererseits soll sie aber auch fit werden für die Folgen des Klimawandels, die sich nicht mehr abwenden lassen. 50 Millionen Franken will der Bund bis 2019 für Anpassungsmassnahmen etwa in den Bereichen Wasserwirtschaft oder Umgang mit Naturgefahren aufwenden.

Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) hat ausserdem das Pilotprogramm «Anpassung an den Klimawandel» lanciert. Im vergangenen Jahr sind 31 Projekte mit finanzieller Unterstützung des Bafu angelaufen, die an konkreten Beispielen herausfinden wollen, wie Regionen mit verschiedenen Folgen des Klimawandels umgehen können. 

Quelle: Lisa Harand

Zum Beispiel in Sion. Niemand bekommt die Klimaerwärmung hierzulande deutlicher zu spüren als die Bewohnerinnen und Bewohner des Walliser Hauptorts. Denn nirgends in der Schweiz ist die Durchschnittstemperatur in den vergangenen Jahrzehnten so stark gestiegen wie hier. Die Stadt gerät immer mehr ins Schwitzen, und Abkühlung ist nicht in Sicht.

Deshalb auch die japanischen Kirschbäume auf der Espace des Remparts. Stadtplaner Lionel Tudisco sagt: «Sie sind unsere Klimaanlagen hier.»

Das Problem, mit dem Sion und zunehmend auch andere Schweizer Städte zu kämpfen haben: urbane Hitzeinseln. An sonnigen Tagen heizen sich Asphaltbeläge und Hausfassaden auf und geben die Hitze dann über Stunden wieder ab. Das führt dazu, dass die Temperatur in Innenstädten um bis zu zehn Grad höher ist als in ländlichen Gebieten. Das Credo lautet daher: weniger Asphalt, mehr Vegetation.

Quelle: Lisa Harand

Die Stadt Sion schwitzt. Blätterdächer schaffen Abhilfe.

Quelle: Lisa Harand

Doch die Klimaerwärmung ist nicht nur in den Städten spürbar, sondern auch in den Bergen. Im Urner Hauptort Altdorf etwa wurden 1965 noch gut 25 Sommertage mit einer Temperatur von mindestens 25 Grad verzeichnet – 2008 waren es bereits 45, Tendenz steigend.

Die Folge für alpine Regionen: Die Gletscher haben schweizweit seit 1850 etwa die Hälfte ihres Volumens verloren, jährlich schmilzt ein Eiswürfel mit einer Seitenlänge von einem Kilometer einfach weg. Gleichzeitig tauen in den Bergen zunehmend auch die Böden der Permafrost-Gebiete auf. Damit steigt das Risko von Naturgefahren: Berghänge, die während Jahrtausenden von dauergefrorenen Böden zusammengehalten wurden, geraten in Bewegung, Felsen donnern ins Tal, Gerölllawinen schlittern hinab.

Wozu das führen kann, lässt sich im Bündnerland zwischen Chur und Domat/Ems besichtigen. Mitten in üppigem Grün klafft eine graue Geröllhalde. Gewaltige 600'000 Kubikmeter Erdmaterial sind hier seit 2013 abgerutscht. Und das ist noch längst nicht alles: «Im Rutschgebiet liegt gut 300'000 Kubikmeter Material, das wahrscheinlich auch noch kommen wird», sagt Magnus Rageth vom Amt für Wald und Naturgefahren der Region Rheintal/Schanfigg.

Die Rüfe ist zwar nicht direkt auf die Klimaerwärmung zurückzuführen, sondern eher auf den verwitterungsanfälligen Bündnerschiefer – aber sie demonstriert eindrücklich, womit man rechnen muss, wenn als Folge schwindenden Permafrosts plötzlich grosse Geschiebe talwärts rutschen.

Quelle: Lisa Harand

Infolge der Klimaerwärmung tauen Permafrost-Gebiete auf. Das führt zu Erosionen.

Quelle: Lisa Harand

Der Berg kommt

Im Frühjahr 2013 setzten sich im Oberlauf der vorderen Val Parghera in Chur mehrere 100'000 m3 Erdmaterial in Bewegung. Der Fall wurde umfangreich dokumentiert. Die Einzelheiten finden Sie hier.

Bröcklig werdende Bergflanken und aufgeheizte Städte als Folge der Klimaerwärmung – das klingt ungemütlich, aber nachvollziehbar. Eher unerwartet in einem Land der Seen und Flüsse scheint dagegen das Szenario einer Wasserknappheit. Martin Fritsch zieht in seiner Beratungsfirma Emac im Zürcher Seefeldquartier amüsiert die Augenbrauen hoch. Er weiss um den scheinbaren Widersinn, doch die Daten, mit denen der Kulturingenieur arbeitet, ergeben eindeutige Prognosen. «Die Ausschläge zwischen sehr trockenem und sehr nassem Wetter werden ausgeprägter», sagt er, «und es wird häufiger zu Phasen von lokaler Wasserknappheit, kritischer Trockenheit und Niedrigwasser kommen.» Szenarien der Forschungsanstalt Agroscope gehen davon aus, dass bis 2050 die sommerlichen Niederschläge in der Schweiz um 20 Prozent zurückgehen.

Anhaltende Trockenperioden treffen die Landwirtschaft besonders stark. Schon heute bewässern die Bauern rund 55'000 Hektaren Nutzfläche zusätzlich, um ihre Erträge sicherzustellen. Durch die Klimaentwicklung wird sich dieser Bedarf vervielfachen, und das bei ungleichmässiger Verfügbarkeit von Wasser.

Quelle: Lisa Harand
Neue Tierarten wandern ein

Der Klimawandel sorgt aber auch für völlig neue Handlungsfelder. Zum Beispiel für Tobias Suter, Biologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Tropeninstitut in Basel. Suter hat soeben die Autobahn A2 verlassen und die Raststätte Pratteln angesteuert – nicht, um eine Fahrpause einzulegen, sondern um Fallen aufzustellen: Tigermücken-Fallen. Sechs Stück, dazu ebenso viele für Mückeneier. Auch dies im Rahmen eines Bafu-Pilotprojekts.

Denn mit der fortschreitenden Klimaerwärmung fühlt sich die asiatische Tigermücke zunehmend auch in der Schweiz wohl. Von Süden kommend, wurde sie 2003 erstmals im Tessin festgestellt, seither ist sie dort heimisch.

«Wir haben zwar noch keine grösseren Populationen», sagt Biologe Pie Müller, Teamleiter am Tropeninstitut, «doch mit den höheren Temperaturen könnte sie sich auch nördlich der Alpen einnisten.» Das ist nicht ohne gesundheitliches Risiko: Das Insekt gehört zu den 100 am stärksten invasiven Organismen und verbreitet einige äusserst gefährliche Virenkrankheiten, darunter das ursprünglich nur in den Tropen auftretende Denguefieber oder Chikungunya.

Im norditalienischen Ravenna kam es bereits 2007 zu einem Chikungunya-Ausbruch mit 200 Erkrankten. Grund zur Panik gebe es nicht, sagt Müller. Dennoch: «Da die Tigermücke anpassungsfähig ist, muss sie überwacht werden.»

Quelle: Lisa Harand

Doch es gibt Möglichkeiten, die Ausbreitung des Insekts einzudämmen. Allein schon, indem die Bevölkerung darauf achtet, dass sich bei Häusern und Gärten keine Wasserflächen bilden – denn Pfützen, Regentonnen oder Blumentopfuntersätze stellen für die Tigermücke ideale Brutplätze dar. Eine entsprechende Informationskampagne im Kanton Tessin ist nicht ohne Wirkung geblieben. Tobias Suter, der unlängst seine Doktorarbeit über die Tigermücke beendet hat, stellt fest: «In der benachbarten Lombardei wird keine Prävention betrieben. Deshalb gibt es dort vermutlich dreimal so viele Tigermücken wie im Tessin.»

Das Beispiel zeigt: Wer sich vorbereitet, kann sich einer Umwelt anpassen, die sich als Folge der Klimaerwärmung verändert. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Wenn sich die Erde jedoch stärker erwärmt, als es die heutigen Szenarien voraussagen, fallen auch die Folgen dramatischer aus – mehr Hitze in den Städten, längere Trockenperioden, heftigere Naturkatastrophen. 

Quelle: Lisa Harand

Lesetipp

Wie verändert sich der Wald im Zuge des Klimawandels? «Er wird sich ausdehnen», sagt Forstwissenschaftler Andreas Rigling im Gespräch mit dem Beobachter. «Seine Funktion als Erholungsraum wird wichtiger».

Quelle: Thinkstock Kollektion