Beobachter: Mehr Geld in den Sozialstaat investieren, um Geld zu sparen – funktioniert das tatsächlich?
Michelle Beyeler: Davon bin ich überzeugt. In diesem Bereich Mittel einzusetzen heisst letztlich, Leuten in sozial schwierigen Situationen Ressourcen mitzugeben, die sie befähigen, später wieder selbständig den Lebensunterhalt zu bestreiten – ohne den Staat zu belasten. Das ist «Return on Investment», wie es in der Wirtschaft heisst. Dort ist dieses Konzept gang und gäbe.

Beobachter: Dort wird knallhart bilanziert. Wie ist der Spareffekt im Sozialen Sozialämter Die Sozialhilfe spart ohne Plan belegt?
Beyeler: Es gibt wenig wissenschaftliche Daten dazu. Eine Investition wirkt langfristig. Was etwa Förderung in der Bildung bringt, merkt man vielleicht erst viele Jahre später. Das macht es schwierig, die Effekte zu messen. Zudem ist der Ansatz des sozialen Investments noch relativ neu.

Beobachter: Was ist daran neu?
Beyeler: Lange war man der Ansicht, es reiche, wenn der Sozialstaat die finanziellen Defizite ausgleicht, die durch eine Notlage entstehen – das Konzept einer Versicherung. Später galt als Maxime, die Leute einfach möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Doch das ist nicht nachhaltig. Wer keine genügende Ausbildung hat, bleibt sein Leben lang in einer prekären Situation. Erst in neuerer Zeit setzt man verstärkt auf fördernde Massnahmen in Form von Begleitung und Qualifikation.

Beobachter: Investitionen ins Humankapital sozusagen. Gibt es gute Beispiele dafür?
Beyeler: Vorbildlich ist das Waadtländer Programm Forjad. Hier wird Arbeitslosen im Alter von bis zu 25 Jahren, die zur Sozialhilfe müssten, eine Lehrstelle vermittelt. Sie erhalten ein Stipendium, damit sie die Berufsausbildung ohne Einbussen absolvieren können. Gekoppelt ist das an ein Coaching für die Integration in die Berufswelt. So lassen sich Sozialhilfekarrieren vermeiden. Genau das ist die Idee von sozialen Investitionen: zu verhindern, dass der «Versicherungsfall» überhaupt eintritt.

Beobachter: Das Rezept klingt überzeugend, doch die politische Realität ist anders: Da dominiert das kurzfristige Spardenken, gerade bei der Sozialhilfe.
Beyeler: Es prallen tatsächlich zwei Denkweisen aufeinander. Der öffentliche Diskurs ist allerdings oft weit weg von der Realität. Wer Sozialhilfe bezieht, ist oft nicht oder nur indirekt in den Arbeitsmarkt vermittelbar. Ausserdem gibt es viele gering Qualifizierte, die trotz Job ohne Sozialhilfe nicht über die Runden kommen. Dennoch wird das Bild von Leuten kultiviert, die bequem vom Staat leben und sich nicht um ihre Arbeitsintegration bemühen. Und dafür soll man noch mehr Geld ausgeben? Daraus lässt sich leicht politisches Kapital schlagen. Bei den Sozialbehörden, die in der Praxis Massnahmen bewilligen, steht man dem Investitionsansatz hingegen offener gegenüber.

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«Wenn man die Leute zu stark an der Hand nimmt, kann sie das träge machen.»

Michelle Beyeler, 44, ist Politikwissenschaftlerin und Dozentin für Sozialpolitik an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit.

Beobachter: Doch die finanziellen Mittel sind begrenzt.
Beyeler: Investieren ins Sozialsystem heisst nicht, einfach immer mehr Programme zu installieren und zu meinen, so seien alle Probleme gelöst. Die Frage ist, wofür die Mittel genau genutzt werden – man muss machen, was effektiv ist. Zuerst muss man aber die Voraussetzungen schaffen, damit die Fachleute vom Sozialamt gute Arbeit leisten können. Ein Schlüssel ist eben: genug Zeit für sorgfältige Fallanalysen, in die auch die Sichtweise der Betroffenen einbezogen wird.

Beobachter: Wie viel ist genug?
Beyeler: Das richtige Mass zu finden ist eine Gratwanderung. Es kann auch ein Zuviel an Zeit und Mitteln geben. Dann arbeitet man in die Breite statt in die Tiefe und trifft Massnahmen, die vielleicht gar nicht nötig wären.

Beobachter: Riskiert man da nicht, die Eigenverantwortung der Bezüger zu untergraben? 
Beyeler: Wenn man die Leute zu stark an der Hand nimmt, kann sie das tatsächlich träge machen. Das wollen wir nicht. Dabei ist es nicht einfach, die richtigen Massnahmen zu finden – was bei einer Person wirkt, hat bei einer anderen überhaupt keinen Effekt. Glauben Sie mir: Soziale Arbeit ist ein anspruchsvoller Job

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