An das Glücksgefühl erinnert sich Claudia Almy noch gut. «Endlich wieder richtige Sozialarbeit machen, habe ich gedacht.» Das war im Frühjahr 2015. Die 49-Jährige, die auf der Sozialberatung Winterthur arbeitet, wurde einer Testgruppe zugelost, die bei einer Studie mitmachen konnte.

Für sie war es das grosse Los. Plötzlich war sie nur noch für 75 Sozialhilfebezüger verantwortlich. Ihre Kollegen dagegen mussten sich weiterhin um durchschnittlich 145 Dossiers kümmern. Claudia Almy hatte nun das, was ihr zuvor immer und überall gefehlt hatte: Zeit. «Richtige Sozialarbeit» – darunter versteht sie: «Den Einzelfall fundiert prüfen, um herauszufinden, wo der Klient sein Potenzial hat. Und was ihn daran hindert, es zu entfalten.» So liessen sich die wirksamsten Massnahmen für die Wiedereingliederung herausfinden.

Die Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sollte zeigen, ob weniger Fälle pro Mitarbeiter sich günstig auswirken – auf die Kosten der Sozialhilfe Existenzsicherung Sozialhilfe von A bis Z und die Qualität der Beratung. Claudia Almys Testgruppe wurde mit der Kontrollgruppe verglichen, dem Rest des Teams, das normal weiterarbeitete. Das Resultat war klar: Wenn die Mitarbeiter für weniger Dossiers zuständig sind, sinken die Ausgaben. Im Winterthurer Experiment sanken die Nettokosten pro Fall und Jahr um 1450 Franken. Das eröffnet dem Sozialamt ein Sparpotenzial von 4,2 Millionen Franken. Mehr Zeit heisst weniger Not.

15 Minuten pro Monat müssen reichen

Wenn 145 Dossiers auf einem Sozialarbeiter lasten, hat er gerade mal 3,1 Stunden Zeit für die persönliche Beratung eines Klienten – pro Jahr. Das macht eine Viertelstunde pro Monat. «So wird man nichts und niemandem gerecht», sagt Sozialarbeiterin Almy. «Weder den eigenen professionellen Ansprüchen noch denen der Klienten, die einen Ausweg aus ihrer Notlage suchen.»

Durch den vertieften Kontakt könne man besser ermitteln, wo die Ressourcen liegen. Claudia Almys Fazit: «Mehr individuelle Begleitung, mehr Verbindlichkeit.» Die Klienten fühlten sich ernst genommen. Dadurch steige ihre Motivation, ihren Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten. Das ist wichtig, weil nach dem sozialen Abstieg das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ohnehin gering ist. «Allein mit Weisungen und Sanktionen vom Schreibtisch aus lässt sich das nicht bewerkstelligen.»

Winterthur ist mit seiner hohen Fallzahl ein Spezialfall. Eine Beobachter-Stichprobe in zwölf Städten und Gemeinden zeigt: Sozialarbeiter betreuen im Schnitt 75 bis 125 Dossiers pro Vollzeitstelle. Die Zahlen lassen sich jedoch nur schwer miteinander vergleichen, da die Sozialdienste unterschiedlich aufgebaut sind. In Basel etwa gibt es ein Team, das ausschliesslich für junge Erwachsene zuständig ist, mit einer Falllast von nur 60 Dossiers. Je nach Amt werden die Sozialarbeiter vom Rechtsdienst oder bei administrativen Arbeiten unterstützt.

Ein Problem im ganzen Land

Eins zu eins können die Resultate der Winterthurer Studie somit nicht auf andere Orte übertragen werden. Die allgemeine Schlussfolgerung ist aber universell gültig. «Eine zu hohe Fallbelastung ist in der ganzen Schweiz ein Problem», bestätigt Stéphane Beuchat von AvenirSocial, dem Berufsverband der sozialen Arbeit. Und die Belastung nehme noch zu: «Viele berichten, dass sie 120 bis 140 Dossiers betreuen müssen.»

Es gibt immer mehr Sozialhilfebezüger, und sie brauchen im Schnitt auch immer länger, bis sie wieder auf die Beine kommen. Die Kosten steigen – und die Politik reagiert mit teils radikalen Sparvorschlägen. 

 

«Die Arbeit auf dem Amt war keine Hilfe. Es war Armutsverwaltung.»

Ein Sozialarbeiter

 

Als erster Kanton will Bern den sogenannten Grundbedarf, den Bezüger zugut haben, um acht Prozent kürzen. Der Aargauer Grosse Rat hat im März einer Kürzung der Sozialhilfe um 30 Prozent zugestimmt. «Integrationswillige, engagierte und motivierte Personen» sollen gemäss dem Vorstoss von SVP, FDP und CVP eine «Motivationsentschädigung» bis zur Höhe des heutigen Grundbedarfs erhalten. Einen ähnlichen Vorstoss hat der Landrat in Baselland überwiesen. Es sei einfacher, Zusatzbeiträge auszuzahlen, als Renitente mit Sanktionen zu bestrafen, begründet Initiant Peter Riebli (SVP). Mit solchen Massnahmen werden die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) systematisch verwässert, an die sich die Kantone bisher gehalten haben.

Trotz immer mehr Fällen werden in vielen Gemeinden keine zusätzlichen Sozialarbeiter eingestellt – aus Spargründen Sozialämter Die Sozialhilfe spart ohne Plan . «Deswegen wenden sich aber nicht weniger Leute an den Sozialdienst», sagt Stéphane Beuchat von AvenirSocial. «Und dann steigt halt die Falllast.» 

Die Caritas kam in einer Studie bereits vor anderthalb Jahren zum Schluss, dass für die persönliche Hilfe immer häufiger die Zeit fehle. Die Sozialhilfe sei gezwungen, sich mehr und mehr auf die Verwaltung der Fälle zu beschränken.

 

2,72 Milliarden Franken kostete die Sozialhilfe im Jahr 2016.

 

Das hat Anna Lanz* am eigenen Leib erfahren. Die 54-Jährige sitzt in ihrer Küche, ein Kater schleicht um ihre Beine. 18 Jahre alt, das Fell struppig. Er gehörte Lanz’ Partner, der vor vier Jahren an seinem zweiten Schlaganfall gestorben ist. Nach dem ersten hat ihn Anna Lanz gepflegt. «Ich habe ihn angezogen, gewaschen, aufs WC gebracht.» Früher hatte ihr Partner für sie gekocht, jetzt war sie dran. «Sein Lieblingsgericht waren Krautwickel.»

Alles für den Partner

Für die Pflegeleistung bekam Lanz von der IV 1800 Franken im Monat. «Ich musste mich entscheiden: mein Job oder mein Partner.» Keine Sekunde bereut sie, dass sie sich für ihn entschied.

Sein Tod belastete sie dann nicht nur emotional, sondern brachte sie auch in Finanznot. Von einem Tag auf den andern fehlte ihr der Pflegebetrag. Sie war über 50 Arbeitslos mit 55 Letzter Ausweg Ausland? und seit vier Jahren ohne Arbeit – ob sie schnell einen Job fände, war höchst fraglich.

Das erste Gespräch auf dem Sozialamt fand drei Tage nach dem Todesfall statt. «Alles in mir war Schmerz», sagt Anna Lanz. «Aber die Sozialarbeiterin wollte nur über Geld reden.» 

500 Franken zu viel kostete die Wohnung, die sie zusammen mit dem Partner gemietet hatte. Deshalb musste sie jetzt auch noch eine neue Bleibe suchen. «Ich schrieb bis zu 20 Wohnungsbewerbungen pro Monat», sagt Lanz. Ohne Erfolg. Gegen sie sprach nicht nur, dass sie Sozialhilfe bezog. Ihre Bewerbungen strotzten vor Fehlern, sie füllte Formulare falsch aus, Begleitdokumente fehlten. «Ich war nie eine Schreibkanone», sagt sie offen.

Die Sozialarbeiterin hielt in einer Aktennotiz fest, dass die Klientin bei den Bewerbungen Unterstützung brauche – bekommen hat sie sie nicht. Im Gegenteil: Lanz’ Bemühungen wurden als ungenügend taxiert, sie wurde bestraft.

 

«Die Klienten wissen: ‹Der hat sowieso keine Zeit für mich.›» 

Ein Sozialarbeiter

 

Für die Miete wurden ihr nur noch 1100 Franken ausgezahlt, den Rest musste Lanz aus dem Grundbedarf zusammenkratzen. Ihr Psychiater schrieb mehrere Briefe ans Sozialamt und wies warnend auf die starke Belastung seiner Patientin Sozialhilfe «Leben ist mehr als nacktes Überleben» hin. «Ich will nicht obdachlos werden», sagte Lanz der Sozialarbeiterin an einem der seltenen Termine. Diese antwortete knapp: «Dann finden Sie endlich eine neue Wohnung.»

Als 2016 ihre Wohnung renoviert wurde, verschärfte sich die Situation. Die Miete stieg, sie war nun sogar um 1100 Franken zu hoch. Unmöglich, den Betrag aus dem Grundbedarf zu decken. Im letzten Moment übernahm Anna Lanz’ Vater die Differenz, sonst wäre seine Tochter auf der Strasse gelandet. Sie wusste nicht, dass sie das dem Amt hätte melden müssen. «Als die Sozialarbeiterin davon erfuhr, drohte sie mir. Das sei Sozialhilfemissbrauch.»

Recht auf Hilfe – und sie kommt nicht

«Diese Geschichte ist typisch», sagt Zoë von Streng von der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). «Viele Bezüger wissen nicht, dass Sozialämter gesetzlich verpflichtet sind, persönliche Hilfe zu leisten», erklärt die Juristin. Also die Klienten zu beraten, zu ermutigen oder an weitere Stellen zu vermitteln. Gerade bei Bewerbungen sei diese Art von Hilfe oft nötig. Nur: «Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, der bei uns gelandet ist, bei dem es diese Unterstützung tatsächlich gab.»

Es sei offensichtlich, dass die Bewerbungen Onlinebewerbung «Ich habe mich dann halt nicht beworben» von Anna Lanz ungenügend waren. «Die Sozialarbeiterin hätte sie beim Schreiben unterstützen müssen», sagt von Streng. «Oder sie bei einem Schreibdienst vorbeischicken.» Später hätte man sie bei Domicil anmelden können – einer Stiftung, die Wohnungen an sozial Schwache vermittelt. So wären Lanz viel Leid sowie Sanktionen des Amts erspart geblieben. Zudem wären die Einsprachen und Rekurse durch die UFS unnötig gewesen. «Bevor wir eingriffen, sah es sogar aus, als ob die Frau wegen des psychischen Drucks stationär behandelt werden muss.»

 

9964 Franken erhielt ein Sozialhilfebezüger 2016 im Schnitt.

 

Dass solche Fälle eskalieren, hat Zoë von Streng oft erlebt. Und meist kosten sie einen Haufen Geld. «Das ist die Folge, wenn Ämter Sozialhilfebezüger wie Nummern und nicht als Menschen behandeln.» Im Fall von Anna Lanz konnte die Juristin das Ruder herumreissen: Heute wohnt Lanz in einer Wohnung, die unter 1000 Franken kostet.

Bei der persönlichen und situationsbedingten Hilfe haben die Sozialarbeitenden eigentlich am meisten Handlungsspielraum (siehe Infografik unten). Aber genau dafür fehlt meist die Zeit. Dann werden die Dossiers im Akkord abgearbeitet – das führt zu Frust. «Ich kenne engagierte Sozialarbeitende, die es unethisch finden, ihren Beruf unter solchen Bedingungen auszuüben», sagt Miryam Eser von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie hat die Winterthurer Falllast-Studie geleitet. Die Unzufriedenheit Unzufrieden im Job Soll ich bleiben oder gehn? führt zu vermehrten personellen Wechseln. Das bedeutet für die Sozialämter einen ständigen Verlust an Know-how. Wie sich eine tiefere Fallbelastung auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter auswirkt, war deshalb eine wichtige Frage in Esers Studie.

Zuerst ging es aber um harte Zahlen. Während 18 Monaten wurden in der Winterthurer Sozialberatung 2903 Fälle bearbeitet – 326 davon durch die dreiköpfige Experimentalgruppe. 300'000 Buchungen lieferten die Datenbasis für die Kostenanalyse. Dass die Testgruppe so klein war, bedauert Studienleiterin Eser. «Zur statistischen Abstützung wären zehn Personen ideal gewesen.» Doch es war unrealistisch, entsprechend viele Extrastellen zu bekommen.

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Mehr Einnahmen

Die Resultate waren aber auch so eindeutig. Zum einen: «Durch eine intensivierte Fallarbeit können mehr Erträge generiert werden.» Will heissen: Dank Unterhaltsbeiträgen , Rückerstattungen und Stipendien, die mit Hilfe der Sozialarbeiter eingefordert wurden, kam mehr Geld herein – Posten, die bei flüchtiger Prüfung leicht übersehen werden. Vor allem aber verdienten viele Sozialhilfebezüger mehr. «Es hat sich gezeigt, dass man sie verstärkt in den regulären Arbeitsmarkt integrieren kann», so Eser. Hochgerechnet resultierten in Winterthur unterm Strich jährliche Einsparungen von 1,5 Millionen Franken – trotz Mehrausgaben für zusätzliches Personal.

In dieser Bilanz nicht eingerechnet ist ein anderer Spareffekt: Personen, die enger begleitet werden, finden schneller aus der Sozialhilfe heraus. Sie sind weniger lang auf Unterstützung angewiesen. 

Weniger Bestrafung

Ein dritter Befund der Studie freut Forscherin Eser ebenfalls: «Durch die verbesserte Kooperation mit den Klienten mussten die Sozialarbeitenden weniger Sanktionen aussprechen.» Ein Hinweis darauf, dass der «Bschiss» mit Sozialhilfegeldern häufig auf Nichtwissen gründet und oft keine böse Absicht dahintersteht.

Die positiven Erkenntnisse hatten in Winterthur handfeste Folgen. Das Stadtparlament bewilligte elf zusätzliche Stellen für die Sozialberatung. «Die Reorganisation läuft auf Hochtouren», sagt Dieter P. Wirth, Leiter der Sozialen Dienste. Man nähere sich schrittweise dem Ziel, dass ein Sozialarbeiter nur noch 75 Dossiers bearbeiten müsse. Fürs Erste erhofft sich Wirth eines: «Dass die Wirkung schnell einsetzt.»

Der massive Stellenausbau verlief nicht ohne politische Nebengeräusche. Die SVP erklärte in der Debatte, solche «Voodoo-Economics» funktionierten nur auf dem Papier (siehe Interview Sozialhilfe «Eine Investition in Bedürftige wirkt langfristig» ). 

Wie schwierig es ist, zusätzliches Geld für die Sozialhilfe zu erhalten, weiss auch der Bieler Sozialdirektor Beat Feurer. Im Wahlkampf vor sechs Jahren hatte der SVP-Politiker die Sozialhilfe in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt – Biel gilt mit einer Quote von 11,8 Prozent als Sozialhilfehochburg. Einmal in die Regierung gewählt, wollte Feurer die Sozialabteilung radikal reorganisieren: mehr Controlling, neue Prozesse. Das Filetstück seiner Massnahmen waren 14 zusätzliche 100-Prozent-Stellen. «Es ging nicht nur darum, mehr Butter aufs Brot zu streichen», sagt er. «Sondern um die Frage: Was wollen wir überhaupt für ein Brot?»

 

«Wir reagieren nur noch, statt zu agieren.»

Eine Sozialarbeiterin

 

Doch es war nicht leicht, die Butter finanziert zu bekommen. Zwei Jahre dauerte das Ringen, bis das Stadtparlament 2016 grünes Licht für die Zusatzstellen gab. «Es brauchte Überzeugungsarbeit», sagt Feurer. «Was war wichtiger: dass wir in einer schwierigen finanziellen Situation ein besseres Gesamtergebnis erzielen? Oder dass wir Geld brauchen für einen besseren Sozialdienst, obwohl wir gar nicht wissen konnten, ob die Investition wirklich etwas bringt?» Kurzfristige Kostenaspekte standen langfristigen strategischen Zielen gegenüber.

Überzeugt hat das Parlament, dass mit dem Sozialdienst über ein Dutzend messbare Ziele definiert wurden. Bis 2019 sollen etwa die Ablösequote und die durchschnittliche Falldauer fünf Prozent besser sein als die Veränderung im kantonalen Schnitt.

Andere Ämter ziehen nach

Was in Biel geglückt ist, peilen auch andere Sozialämter an. Und mit der Winterthurer Studie haben sie nun einen neuen Pfeil im Köcher: den Beleg, dass sich mit mehr Stellen Kosten einsparen lassen. 

«Die Studie ist so wertvoll, weil sie empirische Zahlen liefert zu Erfahrungswissen, das grundsätzlich schon lange vorhanden ist», sagt etwa Turi Schallenberg vom Amt für Soziale Dienste in Frauenfeld TG. Dort wurde mit dieser Argumentation ein Stellenausbau politisch durchgeboxt, genauso in Emmen LU. Hier konnte die Falllast pro 100-Prozent-Stelle auf 75 Dossiers gesenkt werden – von 129 im letzten Jahr. Ein Modell macht Schule.

 

*Name geändert

Infografik Sozialhilfe
Quelle: Infografik: Andrea Klaiber; Quelle: SKOS
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