Immer wieder hört man erschreckende Geschichten: Kleine Kinder kommen mit Krankheiten, Infekten oder massiven Mangelerscheinungen zum Arzt, weil sie von ihren Eltern falsch ernährt worden sind – in bester Absicht. Magazine und Onlineforen propagieren alle möglichen Ernährungsformen, die angeblich gesund sind. Laktosefrei, glutenfrei – allein die Idee, dass diese Lebensmittel «frei von» etwas sind, schürt offenbar den Glauben, dass das, was eben nicht drinsteckt, etwas Ungesundes ist. Eltern füttern ihr Baby präventiv mit Produkten, die frei sind von Milchzucker und Klebereiweiss. Auch wenn es weder eine Laktoseintoleranz hat noch an Zöliakie leidet.

«Solche Trends sind nichts Neues», sagt Nathalie Metzger, Leiterin der Ernährungsberatung am Kinderspital Zürich. «Eltern haben Gewohnheiten oder Vorstellungen davon, wie Ernährung sein soll, und übertragen diese auf die Kinder.» Im Internet kann sich jeder vermeintliches Wissen aneignen. «Man findet fast alles, leider auch viel Falsches», so Metzger. «Wir sehen bei ambulanten Überweisungen hie und da, dass Eltern mit ihren Kindern eine Diät machen, die ihnen kein Arzt verordnet hat.»

Das kann gefährlich sein – nicht nur für das betroffene Kind, sondern auch für all diejenigen, die eine nachgewiesene Lebensmittelintoleranz oder -allergie haben (siehe «Allergie oder Intoleranz», Seite 10). «Wenn ein Kind eine nachweisbare Allergie hat und die Gefahr einer schweren allergischen Reaktion besteht, bieten wir den Eltern an, zusammen mit dem Allergiezentrum Schweiz eine Schulung für die Lehrpersonen und die anderen Kinder der Spielgruppe oder Klasse durchzuführen», sagt Miriam Hoernes, Allergologin am Kinderspital. «In diesem Zusammenhang ist es auffällig, wie oft die Lehrpersonen berichten, dass auch andere Kinder auf dies oder jenes allergisch seien und gewisse Sachen nicht essen dürften.»

«Eltern übertragen 
ihre Vorstellung davon, wie Ernährung sein soll, auf die Kinder.»

Nathalie Metzger, Ernährungsberaterin

Das sei nicht ungefährlich, weil die Gefahr bestehe, dass man die echten Allergiker nicht mehr ernst nehme. Hoernes: «Wenn die Leute in der Kita nicht präzise wissen, was medizinisch wirklich notwendig ist, kann das für diejenigen Kinder, die mit einem allergischen Schock auf gewisse Lebensmittel reagieren, richtig gefährlich werden.» Metzger sagt: «Es gibt zwar eine leichte Zunahme an Zöliakiepatienten. Tatsache ist aber, dass auch viele Menschen ohne Diagnose auf Gluten verzichten.» Dass nicht alle von ihnen an Zöliakie leiden, schliesst Metzger daraus, dass Bäckereien glutenfreies Brot anbieten und dafür offenbar eine Kundschaft besteht. «Dieses Brot, das neben dem normalen Brot im Regal liegt, kann aber gar nicht mehr glutenfrei sein, das ist bereits kontaminiert und für einen echten Allergiker ein Problem.» Daraus lässt sich schliessen, dass viele Menschen, die das Klebereiweiss eigentlich vertragen, trotzdem glutenfreies Brot kaufen – und damit glücklich sind. Immerhin hat der Trend einen positiven Nebeneffekt: Gluten- und laktosefreie Produkte sind günstiger geworden und im Supermarkt erhältlich.
Eltern überschätzen das Problem
Nicht alles ist einfach nur Trend. Miriam Hoernes sagt: «Echte Nahrungsmittelallergien sind zahlreicher geworden – wenn auch nicht in dem Ausmass, wie Eltern oft meinen. Wenn sie Fragebögen ausfüllen, geben zehnmal so viele Eltern an, ihr Kind vertrage bestimmte Nahrungsmittel nicht, wie wir ärztlich nachweisen können.» Weshalb es mehr Allergien gibt, weiss man nicht. Internationale Studien zeigen, dass Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, weniger oft Allergien und Asthma haben. Allerdings ist es schwierig, diese Zahlen zu interpretieren – ist es der Stallstaub, die Rohmilch, eine Kombination von all dem oder etwas ganz anderes? «Das Vermeiden allergener Lebensmittel, wie wir es in den letzten Jahren weltweit propagiert haben, hat nicht geholfen», sagt Allergologin Hoernes. «Die Idee war, das Immunsystem reifen zu lassen, bevor das Kleinkind Eier, Milch und Nüsse zu essen bekommt, damit es dann besser damit umgehen kann.» Die Zahl der Allergien habe aber eher zu- als abgenommen, und auch das Spektrum der allergieauslösenden Nahrungsmittel sei breiter geworden. «Auch das kann verschiedene Gründe haben. Es wird mehr importiert, man bringt mehr Lebensmittel von Reisen mit», so Miriam Hoernes. Man sehe heute Einjährige 
mit Jakobsmuschel-Allergien, Allergien gegen Sesam, Cashewnüsse oder Quinoa. «All dies wird viel häufiger verwendet als noch vor zehn Jahren.» Man rät heute zum Gegenteil: «Es gibt keinen Grund mehr, potenziell allergene Nahrungsmittel wie Eier, Fisch und Nüsse verzögert in die Ernährung eines Kindes einzuführen», sagt Hoernes. Die Schweizer Kinderallergologen haben 2015 eine entsprechende Empfehlung publiziert. Trotzdem geht der Hype um Einschränkungen weiter. Nun ist auch vegetarische oder vegane Kost für Kinder im Trend. Ernährungsberaterin Metzger sagt: «Ich empfehle grundsätzlich keine vegane Ernährung für Kinder, aber ich begleite Eltern, die diesen Wunsch haben. Wenn man das machen möchte, braucht es Zeit, Geld, das nötige Wissen, regelmässige Laboruntersuchungen durch den Kinderarzt. Und dazu die Bereitschaft, die Ernährung künstlich mit den Vitaminen B12 und D zu ergänzen.»
Mehr «Znünikultur» in der Unterstufe

Mit fachlicher Hilfe sind auch die Empfehlungen zum Znüni entstanden, die zum Beispiel in Zürich an alle Kindergärtler und Erstklässlerinnen verteilt werden. Marianne Honegger, Ernährungsberaterin des Schulärztlichen Dienstes, wünscht sich eine «Znünikultur»: «Es soll einfach dazugehören, dass die Kinder in der Pause Wasser trinken und etwas Gesundes essen, eine Frucht, Gemüse, ein Brötli – je nachdem, ob und wie viel das Kind gefrühstückt hat.» Die Lehrer sind froh um diese Empfehlungen, weil sie so einheitlich agieren können.

Eltern reagieren unterschiedlich. «Es gibt immer wieder solche, die den Flyer als Bevormundung empfinden. Aber ich höre häufiger, dass die Tipps helfen und die Eltern in ihrem Anliegen, den Kindern einen guten Znüni mitzugeben, unterstützen.» Gerade in Familien mit Migrationshintergrund spiele Werbung eine grosse Rolle. Sie suggeriere erfolgreich, in einem süssen Fertigprodukt stecke alles, was ein Kind braucht. «Zudem ist es halt bequem, dem Kind einfach eine Milchschnitte einzupacken: Es gibt sie fertig verpackt, sie ist lange haltbar, und es setzt keine Diskussionen ab, weil sie dem Kind schmeckt.»

Die Legende vom Bananenverbot

Dass Kindergärtnerinnen Dreikäsehochs heimschicken, weil diese eine Banane mitbringen, ist allerdings ein Mythos. Dass Bananen auf dem Zürcher Flyer nicht als tägliche Empfehlung geführt werden, sondern bloss in der Kategorie «ab und zu», hat denn auch nichts mit deren Kaloriengehalt zu tun. Honegger erklärt: «Zum einen sind Bananen süss und klebrig. Wenn die Kinder nicht regelmässig ihre Zähne putzen, kann das ein Problem werden. Zum anderen aber haben wir bei unseren Empfehlungen auch auf ökologische Aspekte geachtet und saisonalen, regionalen Produkten den Vorzug gegeben.» Nicht schlecht, wenn auch dieses Wissen schon im Kindergarten Einzug hält.

Allergie oder Intoleranz – das sind die Unterschiede

Eine Lebensmittel- oder Nahrungsmittelallergie ist eine Reaktion 
des Immunsystems auf eigentlich harmlose Bestandteile. Es reagiert auf bestimmte Inhaltsstoffe, die Allergene. Eine Lebensmittelallergie ist absolut – das heisst, man hat sie oder man hat sie nicht. Die allergische Reaktion tritt meist schnell auf, äussert sich in Hautrötungen, Jucken, Bauchweh, Durchfall, Erbrechen oder Asthma und kann im Extremfall lebensbedrohlich sein (anaphylaktischer Schock). Nahrungsmittel, die relativ oft allergische Reaktionen auslösen, sind Milchprodukte, Eier, Nüsse oder Fisch. Bei Kleinkindern sind die häufigsten Allergien diejenigen gegen Kuhmilch, Soja, Weizen und Eier. Menschen mit einer Lebensmittelallergie müssen die jeweiligen Nahrungsmittel strikt meiden und ein Notfallset mit einem Antihistamin oder einem Adrenalinpräparat bei sich tragen. Graduell und oft von den Umständen abhängig ist dagegen die Nahrungsmittelunverträglichkeit beziehungsweise -intoleranz: Auch hier entsteht eine Reaktion, aber nicht zwingend eine allergische. Deshalb können Unverträglichkeiten auch nicht in immunologischen Tests nachgewiesen werden. Die häufigste Unverträglichkeit ist die Laktoseintoleranz, 
an der in der Schweiz eine von fünf Personen leidet, allerdings mehr oder weniger heftig. Das bedeutet, dass die betreffenden Stoffe nicht strikt gemieden werden müssen, sondern dass man herausfinden muss, wie viel man davon konsumieren kann.