Klaus Leuenberger musste lange warten. Doch jetzt strecken die Schlüsselblümchen ihre gelben Köpfchen hervor, nur ein paar Meter von seiner Küche. Ein Glücksgefühl für Leuenberger. «Dieser Winter war lang und intensiv», sagt der Sternekoch aus Ernen VS. Noch vor kurzem war die Sonnenterrasse auf 1200 Meter ganz weiss. Jetzt spriesst die Natur. Leuenberger kniet nieder und knipst eifrig Blüten ab. Sie sind schon genügend gross für eine Suppe.

Die Schlüsselblumensuppe gehört zu Leuenbergers Lieblingsrezepten, «weil sie die Saison einläutet» (siehe Rezept, rechts). «Der Frühling ist eine schwierige Zeit», erzählt der Wirt des Restaurants Erner Garten. «Frisches Gemüse haben wir noch nicht viel, und das Lagergemüse geht uns langsam aus.» Er könnte auf Importiertes zurückgreifen. Aber das kommt für ihn nicht in Frage. Klaus Leuenberger setzt schon lange auf ein Thema, das in der Gourmetszene ein grosser Trend geworden ist: Terroir – die Einzigartigkeit des Standorts. Ausser Gewürzen nutzt er nichts Importiertes.

Von Kanada bis Katar

Das war nicht immer so. Erst wollte er die Welt entdecken, zog nach seiner Koch-Ausbildung und ein paar Lehrjahren in Schweizer 5-Sterne-Küchen in die weite Welt hinaus. «Ich habe Koch gelernt, damit ich um den Globus reisen und viele Länder kennenlernen konnte.» Zuerst ging er nach Kanada, dann arbeitete er auf 
einem Kreuzfahrtschiff, anschliessend in Polen und Katar. 

«Aber irgendwann hatte ich es gesehen», erzählt der 54-Jährige in seinem breiten Berner Dialekt. Nicht nur die weite Welt, auch all die exotischen Produkte. Er merkte, dass er hier im Wallis alles bekommt, was er braucht. «Wir leben schliesslich mitten im Herzen Europas. Diese Gegend bietet eine enorme Vielfalt an Gemüse und Tieren – und das gleich vor der Haustür.»

Und so stehen bei Leuenberger Raritäten auf der Karte, zum Beispiel Murmeltier-Gehacktes, Dachs-Ragout oder Tannenspitzen-Glace. «Urküche aus Berg und Tal» nennt er sein Konzept. Dabei lässt er sich von der Natur inspirieren, die ihn umgibt. Sie sei das Vorbild für seine Küche. Anfangs legte er den Begriff noch grosszügig aus, «sein» Gebiet umfasste den ganzen Alpenraum. Inzwischen beschränkt er sich mehrheitlich auf das Wallis. «Da muss ich manchmal schon kreativ werden», sagt er lachend. «Aber genau das ist das Spannende, das Herausfordernde meines Berufs.»

Schlüsselblume
Quelle: Tina Sturzenegger
Vom Bauernhof auf den Tisch

Auch Sonnenblumenknospen findet er gleich um die Ecke, er legt sie in einheimischen Verjus aus unreifen Trauben ein. Alpenblüten wiederum verarbeitet er zu Toffees. Die Rohstoffe kommen teils vom Berglandhof, einer Betriebs- und Lebensgemeinschaft von drei Familien. So kann Leuenberger sein Konzept «Farm to Table» konsequent umsetzen. «Sie bauen an, was ich brauche.»

Gleich neben Leuenbergers Küche liegt der 50 Hektaren grosse Bauernhof. Hier wird nach biologisch-dynamischen Prinzipien produziert, seit 1998 mit Demeter-Zertifizierung. Mitbegründerin Daniela Corbellini Schweizer führt über die Felder. Noch liegt vieles brach, aber im Gewächshaus spriessen die Setzlinge bereits kräftig. Bald schon wird Koch Leuenberger aus dem Vollen schöpfen können. Aus den süssen Pro-Spezie-Rara-Tomaten stellt er ungezuckertes Ketchup her, aus Kürbissen und Ringelblumen eine Suppe, aus dem Wurzel- und Kohlgemüse eine Minestra-Mischung. Vieles davon verkauft er unter seinem Label «Speisewerk».

Klaus Leuenberger profitiert auch vom Stall. Auf dem Berglandhof leben vorwiegend alte, vom Aussterben bedrohte Rassen, etwa die Hinterwälder-Rinder. Sie sind robust, genügsam und widerstandsfähig. Ebenso die wollhaarigen Weideschweine und die Walliser Landschafe, die regelmässig bei Koch Leuenberger auf dem Teller landen.

Inzwischen steht dieser in Jeans und schwarzer Kochjacke in der Küche. Sie ist hell und modern. Dank grossen Fenstern kann er bei Tageslicht arbeiten – mit Blick auf die Bergriesen Galenstock und Finsteraarhorn.

Die Schlüsselblumensuppe köchelt leise vor sich hin. Für den Zwischengang zerlegt er einen Birkhahn, den er so lange im eigenen Saft und Fett einkocht, bis er ihn zum Rillettes-Brotaufstrich verarbeiten kann. Anschliessend macht sich Leuenberger an den Dachs, den er vom Wildhüter erhalten hat. Der war froh um einen Abnehmer, sonst hätte er den Dachs entsorgen müssen. «Mein Glück ist es, dass andere Gastronomen solche Raritäten verschmähen», sagt Leuenberger schmunzelnd.

Klaus Leuchenberger
Quelle: Tina Sturzenegger
Dachs ohne Drüsen

Das ganze Tier hat er einige Tage in Rotweinmarinade ziehen lassen. Nun zückt er sein japanisches Fleischmesser und zerlegt es. Sorgfältig trennt er sämtliche Drüsen weg, «sonst wäre der Gout eher unangenehm». Für das Ragout verwendet er alle Teile. Er brät sie mit Rapsöl in einer riesigen Eisenpfanne an, dann kommen sie mit Zwiebeln, Knoblauch, Karotten und Kartoffeln in den Schmortopf.

Der Dachs schmeckt, auch wenn er etwas zäh ist. Aber der erdige Gout gefällt. Mit jedem Bissen spürt man, dass Leuenberger sein Handwerk liebt. Kein Wunder, ist auch der «Gault Millau» von seiner Küche begeistert, lobt ihn als begnadeten Innovator, der bewährte oder längst vergessene Rezepte der Neuzeit anpasst, und ehrt ihn mit 15 Punkten.

Was auf Leuenbergers Speisekarte erscheint, ist sorgfältig ausgewählt und lockt Einheimische und Gäste von weit her an. Die Spezialität Gommer Cholera, ein pikanter Gemüsekuchen, darf nicht fehlen. Manches mag gewöhnungsbedürftig sein, etwa Hirn und Hoden auf Unkraut. «Doch das Gericht ist ein Renner», erzählt Leuenberger. Beim gehackten Murmeltier hätten die Gäste zuweilen etwas Mühe. «Dabei sind die Tiere hier eine wahre Plage.»

Fuchs hatte er auch schon auf der Karte. Vor ein paar Jahren hat ihm das der Lebensmittelinspektor verboten. Doch unbeirrt zieht der Querdenker seine Philosophie durch. «Ich mache einfach, was ich für logisch halte. Und nicht das, was gerade Trend ist.»

Dachs-Ragout mit Dachs-Ravioli
Quelle: Tina Sturzenegger
Er kam per Töff und blieb

So schnell wird Leuenberger das Wallis nicht verlassen. Dabei war es Zufall, dass es den Emmentaler  Bauernsohn hierhin verschlug. Bei einer Töff-Tour hielt er im schmucken Ernen mit seinen mächtigen schwarzen Holzhäusern an und kehrte im Restaurant St. Georg ein. Die Wirtin wollte ihn gleich engagieren – aber nicht nur für eine Saison, sondern als Nachfolger. Zwei, drei Jahre wollte er bleiben. Daraus sind nun über 20 geworden. Er vermisse in Ernen nichts, sagt Leuenberger. «Schliesslich lebe ich ja nicht am Ende der Welt, sondern genau mittendrin.»

Rezept

Klaus Leuenbergers Rezept für die Schlüsselblumensuppe finden Sie hier.

Schlüsselblumensuppe
Quelle: Tina Sturzenegger