Drei Jahre lang hat Vanessa Sacchet ihren krebskranken Partner betreut. «Zu Hause gab es da eigentlich immer mehr zu tun als bei der Arbeit», sagt die 43-Jährige aus Elgg ZH. Sie pflegte den Kranken, begleitete ihn zum Arzt und zur Chemotherapie, erledigte Administratives und den Haushalt. Das alles wäre unmöglich zu schaffen gewesen, wenn sie nicht einen «sehr verständnisvollen Chef» gehabt hätte: Er erlaubte ihr, ihr 60-Prozent-Pensum so zu verteilen, dass sie vor dem Mittag bereits wieder bei ihrem Partner zu Hause sein konnte.

Etwa vier Prozent der Erwerbstätigen geht es wie Vanessa Sacchet: Sie leben mit einem Pflegebedürftigen im selben Haushalt oder übernehmen regelmässig Betreuungsaufgaben für Verwandte und Bekannte. Das sind rund 160'000 Frauen und Männer, wie eine Studie der Kalaidos Fachhochschule Schweiz zeigt.

«Männer springen eher sporadisch ein»

Nicht mitgezählt sind all jene, die aus dem Berufsleben ausstiegen, weil sie nicht beides unter einen Hut bringen konnten. Die unbezahlten Pflege- und Betreuungsstunden in der Schweiz entsprechen rund 14'500 Vollzeitstellen, berechnet die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung.

Zwei Drittel dieser Arbeit werden von Frauen geleistet. «Vorwiegend Frauen kümmern sich täglich um das Wohlergehen einer pflegebedürftigen Person. Männer springen eher sporadisch ein», sagt Romy Mahrer Imhof, Professorin für familienzentrierte Pflege an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Viele dieser Frauen schaffen es nicht, das tägliche Engagement mit ihrer Erwerbstätigkeit zu vereinbaren. Deshalb steigen sie aus dem Berufsleben aus oder reduzieren zumindest ihr Pensum.

«Ideal ist das selten», sagt Mahrer Imhof – häufig nehmen die Pflegenden Lohneinbussen und auch Rentenkürzungen in Kauf. «Allein deshalb empfehle ich eher, Entlastungen zu suchen, beispielsweise mit der Spitex.» Etwa 60 Prozent der Betroffenen täten das nicht. Auch Vanessa Sacchet setzte selbst Spritzen, versorgte Wunden und übernahm die Körperpflege. «Wir wollten keine fixen Termine, denn wir wussten im Voraus nie, wie die Nacht verläuft», erklärt sie. «Wenn mein Partner erst um fünf Uhr früh einschlafen konnte, wollte ich ihn nicht um zehn bereits wieder wecken, weil die Spitex kommt.»

Für fast jede häufige Krankheit eine Anlaufstelle

Sie schrieb über die belastende Phase zwischen Hoffnung und Verzweiflung ein Buch. Und empfiehlt im Nachhinein allen, die einen Angehörigen pflegen, sich nach externen Hilfsangeboten zu erkundigen und diese anzunehmen. «Wir haben uns eher spät an die Krebsliga gewandt und erfahren, dass sie einen Chemotherapie-Fahrdienst anbietet. Der hätte meinen Partner für nur zehn Franken ins Spital und nach Hause zurückgebracht.» Heute weiss sie: Es gibt für fast jede häufige Krankheit eine Stelle, die Hilfe anbietet.

Sacchet musste ihr Pensum nicht reduzieren, da sie erst kurz vor der niederschmetternden Diagnose eine 60-Prozent-Stelle angetreten hatte. «Ein volles Pensum wäre unmöglich gewesen», sagt sie. Trotz der Belastung war ihr die Arbeit «eine willkommene Abwechslung und eine Zeit, in der ich mich für einige Stunden auf etwas anderes konzentrieren konnte».

Als belastend empfand sie ihren Job nur, wenn es ihrem Partner speziell schlecht ging. An solchen Tagen kreisten ihre Gedanken nur um ihn. Doch der Chef zeigte sich auch dann verständnisvoll. «Ich konnte früher gehen und die versäumten Stunden nachholen.» Diese tolerante Haltung rechnet die Direktionsassistentin ihrem Vorgesetzten so hoch an, dass sie – trotz Umstrukturierungen – bis heute für ihn arbeitet und nicht im Traum daran denkt, die Stelle zu wechseln.

Auch einige grosse Arbeitgeber haben inzwischen erkannt, dass es sich auszahlt, für eine gewisse Zeit auf einen Mitarbeiter zu verzichten, wenn man ihn dafür behalten kann. So ist es bei der Swisscom seit Oktober ziemlich unkompliziert möglich, das Pensum vorübergehend zu verkleinern, falls ein Angehöriger schwer erkrankt und auf Pflege angewiesen ist. Aktuell profitieren fünf Angestellte von diesem Angebot, sagt Anita Attinger, Leiterin der betriebsinternen Sozialberatung.

Pflege von Angehörigen: Modell Swisscom

Als eine der ersten Schweizer Grossfirmen hat die Swisscom ein flexibles Arbeitszeitmodell eingeführt, das speziell auf die Bedürfnisse pflegender Angehöriger ausgerichtet ist. Das Programm «Work and Care» ermöglicht Angestellten, ihre Arbeitszeit temporär zu reduzieren. Dazu werden zwei Modelle getestet:

Im Fall einer eher kurzen Betreuungszeit von drei bis vier Monaten können Betreuer weniger arbeiten und die verpassten Stunden später aufholen. So können sie sich ohne finanzielle Einbusse bis zu 100 Minusstunden aufrechnen lassen.

Beim zweiten Modell können Angestellte, die mehr als 50 Prozent arbeiten, ihr Pensum vorübergehend und längstens für 18 Monate reduzieren. Dabei entstandene Lohneinbussen werden, wenn notwendig, über einen internen Fonds abgedeckt.

Das Modell wird vorerst in einer Pilotphase bis März 2015 getestet. Ob es danach fest eingeführt wird, ist offen.

Anlass zu diesem Swisscom-Angebot gab eine Umfrage, in der zwölf Prozent der Belegschaft aussagten, sie pflegten aktuell einen nahestehenden Menschen. Weitere 16 Prozent glauben, dass das in absehbarer Zeit auf sie zukomme. Wer deshalb weniger arbeiten will, muss sich als einzige Voraussetzung durch einen Sozialarbeiter des Betriebs beraten lassen. «Dabei suchen wir gemeinsam mit der betroffenen Person nach der optimalen Lösung», sagt Anita Attinger. «Das ist nämlich nicht in jedem Fall die Pflege zu Hause.»

Das glaubt auch Expertin Romy Mahrer Imhof. «Vor allem im Fall betagter Eltern beginnt die Unterstützung häufig eher schleichend. Oft wäre es klug, sich frühzeitig nach externen Angeboten zu erkundigen.» Am Anfang gehe es darum, den Rasen zu mähen, später die Einkäufe zu übernehmen, dann die Wäsche. Belastend wird es, wenn vieles nicht mehr geht und Mutter oder Vater täglich im Büro anruft.

«In solchen Fällen ist es schwierig, konzentriert zu arbeiten, weil man nicht weiss, was einen nach Feierabend erwartet.» Inzwischen sähen zwar etliche Arbeitgeber das Bedürfnis ihrer Angestellten, in solchen Situationen vorübergehend kürzertreten zu können, und suchten nach Lösungen. Bis das in der Schweiz allerdings auf breiter Ebene so weit ist, bleibt den Betroffenen nur die Hoffnung auf das Verständnis ihres Vorgesetzten.

Offenheit räumt Missverständnisse aus

Um dieses zu bekommen, rät Vanessa Sacchet zu absoluter Offenheit – auch gegenüber gleichgestellten Mitarbeitern. «Wenn sie nicht verstehen, warum jemand schon wieder früher nach Hause darf, verursacht das unweigerlich Missverständnisse und gibt unnötig böses Blut.»

In ihrem Fall führte die Offenheit zu viel Mitgefühl, aber auch Unverständnis. Einige Leute in ihrem Umfeld hätten ihr enormes Engagement nicht verstanden und ihr nahegelegt, sich von ihrem schwerkranken Partner zu trennen – und selber wieder zu leben. «Das hätte ich niemals fertiggebracht», sagt Vanessa Sacchet. «Nicht umsonst heisst es schliesslich ‹in guten wie in schlechten Zeiten›.»

Weitere Informationen

  • Ausführliche Informationen über die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Angehörigenpflege: www.workandcare.ch

  • Pflegegeleitete Beratung für Angehörige von älteren Menschen der ZHAW Winterthur: www.project.zhaw.ch/de/gesundheit/famber