Zweihundert Kilometer, zwei Stunden. Die Fahrt von Ursenbach BE nach Genf hat Platz für Gedanken. Bernhard H. hat nur einen: Vielleicht ist Moara nicht da.

Es ist Freitag, der 20. April 2018. Bernhard H. ist losgefahren, um seine Tochter nach Hause zu holen. Moaras Mutter hatte zwei Rückflugtickets auf diesen Tag gebucht. Eins für die Tochter, 8, eins für sich. In Ursenbach warten die kleine Halbschwester und das Baby im Bauch der Stiefmama. Moara hat sich gewünscht, rechtzeitig zur Geburt wieder da zu sein. Sie hat nicht gewusst, dass ihre Mama andere Pläne hat.

Am Flughafen in Genf wird für H. das Schlimmste Realität: Das Flugzeug aus Brasilien ist da, Moara nicht. Am Montag meldet er seine Tochter als entführt. Entführt von ihrer Mutter.

Vor über 100 Tagen hätte sie aus dem Flugzeug steigen sollen

Vor zehn Jahren hatten sich Aryane* und Bernhard H. in Brasilien kennengelernt. Eine Ferienliebe. Er reiste ohne sie zurück, wollte nichts forcieren, brauchte Zeit. Sie aber konnte sich in der Schweiz ein besseres Leben vorstellen und folgte H. bald darauf ins Emmental. 2010 kam Moara auf die Welt. Aryane hatte heimlich die Pille abgesetzt. Bernhard H. hätte warten wollen, bis das mit dem Deutsch und der Schweiz besser klappt. Sie heirateten trotzdem . Oder gerade deswegen.

Dann kamen die Probleme. Aryane wollte in der Schweiz nicht richtig ankommen. Interessierte sich nicht für Deutschkurse, machte der Familienhilfe die Tür nicht auf, isolierte sich von ihrer Schweizer Verwandtschaft. Als Moara zwei war, flüchtete H. mit ihr ins Männerhaus. Die Streitereien eskalierten. Danach die Trennung, geteiltes Sorgerecht. Für Moara wollten beide Elternteile das Beste.

Heute, sechs Jahre später, sucht Bernhard H. verzweifelt nach seiner Tochter. Vor über 100 Tagen hätte sie aus dem Flugzeug steigen sollen. Der Vater weiss nicht, ob sie weiterhin zur Schule gehen darf. Ob es ihr überhaupt gutgeht. Die Patchworkfamilie ist auseinandergebrochen. Was ist passiert?

Gemeinsames Weihnachtsfest

Bernhard H. sitzt am Familientisch. Vor sich hat er die Geschichte seiner Familie, zusammengefasst in fünf Bundesordnern. «Anwälte, Beistandschaft, Familienhilfe: Wie und wo Moara am besten leben soll, war spätestens nach dem Männerhaus nicht mehr die alleinige Entscheidung von meiner Exfrau und mir. Unsere Familie gründete auf Abmachungen. Auch wenn es schwierig war, Moara sollte weiterhin Mama und Papa haben Sorgerecht «Die Eltern müssen umdenken»

Abgemacht wurde, dass Moara von Montag bis Donnerstag bei ihrer Mutter lebt. Und von Freitag bis Sonntag beim Vater und seiner neuen Familie. Manchmal klappte alles gut. Das eine Mal etwa, Weihnachten 2016. Die ganze Familie feierte idyllisch am Baum. Auch Aryane war eingeladen und hatte die zweimonatige Halbschwester ihrer Tochter auf dem Arm. «Moara war so glücklich. Alles schien gut.» Für eine Zeit.

Dann begannen die Probleme von neuem. Aryane nahm Bernhard H.s Anrufe nicht entgegen. Sie war mit Moara nicht zu Hause, wenn er sie fürs lange Wochenende zu sich holen wollte. H. musste seine Tage mit Moara immer öfter erstreiten. In einem Antrag für das alleinige Sorgerecht Sorgerecht Mit dem Kind auswandern? schrieb Aryane, ihr Exmann habe nun eine neue Familie und müsse Moara deshalb nicht mehr regelmässig sehen. Der Antrag wurde abgelehnt.

128 Absenzen in der Schule

Moara kam in die Schule, und auch die Lehrer merkten, dass etwas nicht stimmte. Das Mädchen fehlte regelmässig. Moara habe am Morgen Bauchweh, weine und wolle nicht in die Schule gehen, begründete Aryane. Sie habe Angst vor der Lehrerin. Einmal begleitete sie Moara ins Schulzimmer und beschimpfte die Lehrerin vor der versammelten Klasse. Danach hatte sie Hausverbot.

Bernhard H. wusste von alldem nichts. Moaras Lehrerinnen kommunizierten Schule Eltern müssen auch mitmachen hauptsächlich mit Aryane. Aryane aber nicht mit ihm. Wenn Moara bei H. wohnte, ging sie gern zur Schule. Am jährlichen Elterngespräch erfuhr der verdutzte Vater dann, dass Moara im Schuljahr fast 128 Stunden gefehlt hatte. Und dass die Schule deshalb eine Gefährdungsmeldung einreichte.

Das Herz zweigeteilt

Ein psychologischer Bericht der Erziehungsbehörde beurteilte die Lage so: Moara sei zwei verschiedene Kinder. Aufgestellt und entspannt, wenn sie vom Vater kommt. Unsicher und nervös, wenn sie von der Mutter kommt. Moara selbst gab zu Protokoll, dass sie in der Nacht die Mama weinen höre. Dass sie wolle, dass Mama glücklich ist. Dass sie eigentlich gern zur Schule geht. Und sehr gern zu Papa, Stiefmama Nicole und zur kleinen Schwester.

Im Januar 2018 wechselte Moara die Schule und wohnte unter der Woche bei Bernhard H. in Ursenbach. Bei ihrer Mama war sie von da an nur noch Freitag bis Sonntag. «Aryane war nicht glücklich mit dem Entscheid. Wir nehmen ihr das Kind weg, warf sie uns vor. Dass es für sie schwierig war, verstehe ich. Moara ist ihr einziger Lebensinhalt. Sie spricht noch immer kein Deutsch, hat kaum soziale Kontakte und keinen Job. Aber Moara ist in Ursenbach aufgeblüht. Sie war glücklich.» Bernhard H. blickt auf das Familienfoto in seinen Händen. Moara lacht im Gras, den Papa und die Stiefmama neben sich. Eine Bilderbuch-Patchworkfamilie. Doch Moaras Herz hat zwei Teile: Mama und Papa.

Als wäre sie nur kurz rausgegangen...

Das verlassene Kinderzimmer von Moara

Das Zimmer der achtjährigen Moara.

Quelle: Joseph Khakshouri

Kurz nach Moaras Schulwechsel äusserte Aryane den Plan, in den Frühlingsferien mit Moara nach Brasilien zur Grossmutter zu reisen. Moara kenne ihre brasilianischen Wurzeln nicht. Ein Vorwurf an den Vater. «Es hat sich alles in mir gesträubt, Moara mitgehen zu lassen. Während unserer Trennung hat meine Ex mehrmals mit Entführung gedroht Entführungsgefahr Wie die Kinder schützen? . Aber ich konnte meiner Tochter doch nicht nur aus Angst ihre Familie vorenthalten?»

H. traf Vorkehrungen. Für wenigstens ein bisschen Sicherheit. In einem offiziellen Schreiben musste Aryane bestätigen, dass sie Moara wieder zurückbringt. Das Papier ist bei Anwälten hinterlegt. Auch das Rückflugticket musste Aryane vorlegen.

Moara bekam von den Ängsten ihres Vaters nichts mit. Sie freute sich auf das Haus mit Pool, auf Ferien mit Mama. Sie packte ihren Koffer, bemalte den Schwangerschaftsbauch ihrer Stiefmama mit «Wunsch: Schwester», tobte mit der zweijährigen Schwester noch ein letztes Mal um den Küchentresen und flog nach Brasilien.

 

«Wenn meine Familie nicht wäre, wäre ich längst nicht mehr hier. Ich wäre in Brasilien, auf der Suche nach Moara.»

Bernhard H.

 

Mindestens 62 Kinder sind letztes Jahr über die Schweizer Grenze entführt worden. In 21 Fällen von ihrem Vater, in 41 Fällen von ihrer Mutter. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen.

Zwei Wochen nachdem seine Tochter entführt worden war, wurde Bernhard H. zum dritten Mal Vater. «Absolutes Gefühlschaos. Wenn meine Familie nicht wäre, wäre ich längst nicht mehr hier. Ich wäre in Brasilien, auf der Suche nach Moara.» Moaras kleiner Bruder liegt während des Gesprächs im Babybettchen neben dem Tisch.

Wenn sich H. wieder sammeln muss, streicht er seinem Jüngsten über den Kopf. Holt kontrolliert Luft. Dann blickt er wieder auf seine Notizen – etwas Ordnung im Leben, das seit April kopfsteht. Mehrmals pro Woche ist er in Kontakt mit dem Justizministerium in Bern. Für Moara läuft ein Rückführungsantrag. Aber erst Ende Juli hat die brasilianische Polizei überhaupt eine Kontaktadresse ausfindig machen können.

Jetzt wartet und hofft H. auf ein Lebenszeichen von Moara. Jeden Morgen zündet er für sie eine Kerze an. Manchmal ist die kleine Schwester dabei. Nach Moara fragt sie jeden Tag. Sie sei «glii» zurück, sagen dann die Eltern. Von der Entführung erzählen sie nichts. «Sie soll jetzt einfach mal zwei sein. Nur mein kleines Töchterchen sein.»

«Sie kommt glii wieder»

Kleine Stiefschwester von Moara

Die Kleine fragt jeden Tag nach ihrer grossen Schwester.

Quelle: Joseph Khakshouri

Das Gleiche wünscht sich Bernhard H. für Moara. Dass sie einfach nur acht Jahre alt sein darf. Deshalb lässt er sie polizeilich suchen. Und beantragt das alleinige Sorgerecht. Auch wenn das heissen könnte, dass Moara gewaltsam von ihrer Mama getrennt wird. «Ich weiss, dass wir hier zu Hause eine Baustelle haben werden, wenn Moara zurück ist. Sie liebt ihr Mami. Das ist gut so, wir haben das immer unterstützt. Doch Aryane hatte Chance um Chance, und sie hat alle verspielt. Das Vertrauen ist weg.»

Neben dem Bild aus glücklicheren Zeiten liegt ein Zettel auf dem Tisch. Zerknittert, aber wertvoll. Moara hat darauf geschrieben: «Lieber Papa, liebe Nicole, liebe Jolina, liebes Bebe. Ich liebe euch sehr. Mehr als alles. Aber Mama auch.»

* Name geändert

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