Sara Satir trinkt ihren Cappuccino mit Hafermilch. Wenn sie lacht, dann laut, glockenhell und ansteckend. Immer wieder streicht sie sich während des Gesprächs das lange blonde Haar aus dem Gesicht, macht kurze Pausen, bevor sie antwortet, sie wählt ihre Worte bewusst. Wie viel Energie und Spontaneität in der 44-jährigen Winterthurerin stecken, blitzt auf, wenn sie auf die Erschöpfung der Mütter zu sprechen kommt oder auf das Familienleben ausserhalb der Norm.

Satir ist Coachin, Seminarleiterin und Mutter von zwei Teenagern. Ihr älterer Sohn Cem lebt mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Vor kurzem wurde er erwachsen und verliess das Elternhaus. Ein grosser Schritt – auch für seine Mutter.

An ein Kind mit Behinderung dachte Sara Satir keine Sekunde. Sie war 24 Jahre alt und gesund, als sie schwanger wurde. Die Geburt war schwierig, doch der Arzt attestierte einen «gesunden Knaben».

«Wie sprechen Sie mit anderen Ärzten über meinen Sohn? Ist er da auch ein Kind mit einer Entwicklungsverzögerung?»

Sara Satir, Coachin und Mutter

Vier Monate später fiel auf, dass Cem sein Köpfchen noch nicht halten konnte und einen schwachen Muskeltonus hatte. «Das kommt schon», hiess es, «haben Sie Geduld.» Satir hatte Geduld, aber auch Angst, erdrückende Angst. «Ich verdrängte mein ungutes Gefühl», sagt sie rückblickend, «ich wollte glauben, was sie sagten.»

Je älter Cem wurde, desto grösser wurde sein Entwicklungsrückstand. «Das holt er auf», sagten die Ärzte weiterhin. «Fakt ist», sagt Satir, «man weiss bis heute nicht, warum Cem so ist, wie er ist.»

Kurz vor Cems drittem Geburtstag wagte sie es, einer Neurologin die Frage zu stellen: «Wie sprechen Sie mit anderen Ärzten über meinen Sohn? Ist er da auch ein Kind mit einer Entwicklungsverzögerung?» Die Neurologin zögerte, antwortete aber schliesslich: «Wir sprechen von einer geistigen Behinderung.» Ein Schock. Aber auch endlich Gewissheit – und tausend Fragen: Wird er je sprechen können? Zur Schule gehen? Und vor allem: Wird Cem jemals selbständig leben können? Die Ärztin schüttelte den Kopf: «Nach heutigem Stand des Wissens wird er immer Unterstützung brauchen.»

Wenig später wurde klar, dass Cem autistisch ist. «Natürlich hätte ich mir eine andere Antwort gewünscht, doch endlich hatte ich Gewissheit, konnte mich mit der Realität auseinandersetzen.» Kurz vor Cems Diagnose hatte Sara Satir erfahren, dass sie ein zweites Mal schwanger war. «Ein spannender Zeitpunkt. Hätte ich früher gewusst, wie es um Cem steht, hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, ein zweites Kind zu bekommen.»

Ruhe, Struktur, Abgeschiedenheit

Bis zu fünfmal pro Woche musste Cem in die Therapie. Je älter und grösser er wurde, desto fordernder wurde seine Begleitung. Der Bub mit den grossen braunen Augen begann zu schreien, wenn es ihm zu viel wurde, mochte nicht Tram fahren, ein Kindergeburtstag war für ihn Stress pur. «Ich bin von meinem Naturell her spontan, chaotisch, abenteuerlustig, liebe den Kontakt mit Menschen», sagt seine Mutter. Doch wenn man ein Kind mit Autismus begleitet, braucht es das Gegenteil: Ruhe, Struktur, Abgeschiedenheit.

Es gab Zeiten, da war es nicht möglich, daheim Besuch zu empfangen. «Ich fühlte mich zusehends einsamer», erinnert sich Satir. Sie passte sich an, strukturierte, plante, verzichtete. «Ich legte meine eigenen Bedürfnisse in eine Schublade und machte sie zu – das war mein Selbstschutz.» Einer Erwerbsarbeit nachzugehen, war schwierig, denn Betreuungsangebote für Kinder wie Cem fehlten.

Wenn Satir sich heute die Fotos aus Cems Kindheit anschaut, sieht sie viele glückliche Momente, Überraschungen und Freude pur. «Mein Sohn liebt wie ich das Leben. Das verbindet uns und hat uns immer wieder über schwierige Momente hinweggetragen.» Vor einem halben Jahr ist der junge Mann von daheim ausgezogen. Nicht wie Gleichaltrige in die Studenten-WG, sondern in eine spezialisierte Institution für Menschen mit Behinderung.

Ein Einschnitt für die ganze Familie. Einer, der Reaktionen hervorrief. «Wie kannst du nur? Ein Kind wie deines ist daheim am besten aufgehoben», liessen andere verlauten. Schwierige Momente für Sara Satir, die sonst nicht um Antworten verlegen ist. «Ein Kind grosszuziehen, das nie selbständig wird, macht einen enorm verletzlich», sagt sie. «Man weiss, dass man es eines Tages allein lassen wird.»

«Von Vätern erwartet man sehr viel ­weniger, eine Mutter hingegen muss oft erst ein Burn-out haben, bis etwas passiert.»

Sara Satir

Satir selbst war 29 Jahre alt, als sie ihren Vater verlor. «Ich gehöre darum nicht zu den Menschen, die automatisch davon ausgehen, dass wir alle alt werden.» An Cems Zukunft zu denken, gehörte für sie darum immer dazu. Sein Arzt unterstützt sie darin. Er sagt: «Cem wird nie einen Ort finden, wo er so geliebt wird wie in der Familie, aber um autonomer und selbständiger zu werden, ist es für ihn am besten, wenn er auszieht.» 

Ein Kind mit einer Behinderung grosszuziehen, sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Man schaffe das nur, wenn man sich selbst Sorge trage. Das ist, was Satir den Familien auf den Weg mitgibt, die sie in ihrer Praxis berät. Viele davon leben mit einem Kind mit Behinderung. «Tatsache ist aber, dass unser Betreuungssystem auf der Aufopferung der Mütter aufbaut.»

Das Idealbild der dienenden Mutter halte sich hartnäckig, an präventiven Entlastungsangeboten fehle es. «Von Vätern erwartet man sehr viel weniger, eine Mutter hingegen muss oft erst ein Burn-out haben, bis etwas passiert.» Obwohl sie eine Care-Revolution fordere, sei sie selber nicht davor gefeit, ein schlechtes Gewissen zu haben. Fragen wie «Ist es okay, dass ich ein schönes Wochenende geniesse ohne Cem?» kommen immer wieder auf.

Tanzkurs, Freundin, Gleichaltrige

Cem ist ein junger Mann, 190 Zentimeter gross, voll entwickelt. «Er braucht jetzt nicht mehr die beschützende Umgebung, sondern die unterstützende, und die kann ihm ein junger Sozialpädagoge unter Umständen besser bieten als die Mutter, die immer voll emotional verbunden ist», sagt Satir, ein wenig, als spreche sie sich Mut zu. Erst jetzt weiss sie wieder, wie es sich anfühlt, nicht völlig erschöpft zu sein.

Satir ist wieder voll berufstätig. Ihr Sohn hat einen wichtigen Schritt in Richtung Selbständigkeit gemacht. Sie denke, die Menschen, die ihn jetzt betreuten, trauten ihm in verschiedenen Situationen mehr zu, als sie es gekonnt hätte. «Für mich hat es etwas mit Würde zu tun, allein wohnen zu dürfen. Auch wegen des Kontakts zu Gleichaltrigen.» Ihr Sohn habe jetzt eine Freundin, besuche einen Tanzkurs. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass ihm das gefallen könnte. «Das ist doch megaschön.»

«Ich musste erst lernen, frei zu haben – bin immer noch dran. Es fühlt sich fremd an, Zeit für mich zu haben.»

Sara Satir

Happy End? «Die Verantwortung abzugeben, ist ein langer Prozess», sagt Satir. Sie wache bis heute nachts auf und befürchte, ihrem Sohn gehe es nicht gut. Ein grosser Teil der Verantwortung sei nach wie vor bei ihr, denn sie ist Cems Beiständin. «Der administrative Aufwand ist enorm, und Cems Leben wird immer viel Raum in meinen Gedanken einnehmen.» 

Doch da sind auch die freien Abende und die unverplanten Wochenenden, an denen Cem nicht nach Hause kommt. «Ich musste erst lernen, frei zu haben – bin immer noch dran. Es fühlt sich fremd an, Zeit für mich zu haben.»

Sara Satir, 44, wünschte sich früh Kinder. Ihr älterer Sohn Cem lebt mit einer Behinderung. Kürzlich wurde er erwachsen. Satir arbeitet als Coachin in Winterthur, begleitet Menschen in herausfordernden Lebenssituationen und schreibt regelmässig im «Migros-Magazin» über ihre Erfahrungen mit Cem – ihre Kolumne heisst «Der andere Blick». www.satircoaching.ch