José steht auf einmal still und schweigt, sein kleiner Körper zittert. Eben noch ist er lachend durchs Zimmer gerannt, seine Schwester Ruth war in sein Gebrüll eingefallen und hatte ihn mit Wäsche beworfen – doch dann hatte der wütende Schrei der Mutter beide zum Schweigen gebracht. Jetzt steht der Bub da und lässt unruhig den Blick schweifen. Mustert den Winkel mit den aufgetürmten Koffern. Die fleckige Wand. Die Ecke, in der auf einer zerwühlten Matratze seine Mutter sitzt, die Esperança heisst, auch wenn in ihr kaum mehr Hoffnung ist.

Hin und her geht Josés Blick, immer schneller – Koffer, Wände, Esperança –, und dann legt er seinen Kopf in den Nacken und biegt den Rücken durch. Der Schrei, der ihm entfährt, ist ohrenbetäubend, und José sieht aus, als wolle er nie mehr aufhören zu schreien. Als wolle er sich hinausschreien aus seiner engen Welt.

José ist zwei Jahre alt, und was er vom Leben bisher gesehen hat, sind hauptsächlich Asylunterkünfte von innen. Zentren wie das Nothilfezentrum hier im bernischen Aarwangen mit seinen 140 Plätzen, in dem er seit sieben Monaten lebt, zusammen mit seiner sechsjährigen Schwester und seiner Mutter. Der Raum misst etwa drei auf vier Meter, hinter einer Tür ist die Toilette. José verlässt ihn praktisch nur, um zu essen oder von Esperança unter die Dusche gestellt zu werden. Ab und zu schleicht er durch den schummrigen Korridor, doch seine Mutter sieht das nicht gern: «Die Umgebung da draussen ist nicht gut für ein Kind», sagt sie. «Zu viele Probleme.»

Anspruch auf Hilfe und Betreuung für alle

Gemäss den aktuellsten verfügbaren Zahlen von 2009 wohnen rund 5800 abgewiesene Asylbewerber in Schweizer Nothilfezentren, davon sind gegen 700 noch keine 15 Jahre alt, Kinder wie José und Ruth. Die Abgewiesenen leben verstreut über alle Kantone, in eigenen Unterkünften oder speziellen Trakten von Durchgangszentren, oft sehr abgelegen. Manche bleiben ein paar Monate, vielleicht ein Jahr, reisen dann aus oder tauchen unter. Nach Angaben des Bundesamts für Migration (BFM) bleiben 15 Prozent von ihnen länger als ein Jahr.

Ein Nothilfezentrum ist eine Transitstation. Wer hier wohnt, für den ist ein Leben in der Schweiz nicht vorgesehen, die Behörden haben sein Gesuch um Asyl abgelehnt oder sind gar nicht erst darauf eingetreten. Trotzdem ist er weiterhin hier. Weil entweder sein Herkunftsland ihn nicht als Staatsangehörigen anerkennt oder ihm keine Papiere für eine Rückreise ausstellt. Weil sein Land keine Schweizer Sonderflüge mit zurückgeschafften Flüchtlingen akzeptiert. Oder weil er sich stumm stellt, nicht sagt, woher er stammt, und so die Rückreise blockiert. Weil er sich fürchtet. Vor der Perspektivlosigkeit, vor Verfolgung vielleicht – oder schlicht vor dem Gesichtsverlust, als Gescheiterter zu Hause ankommen und von vorn anfangen zu müssen.

Diese Menschen haben von der Schweiz nicht mehr zu erwarten als das, was Artikel 12 der Bundesverfassung festschreibt; dass nämlich Anspruch auf Hilfe und Betreuung habe, wer in Not geraten sei und nicht für sich selber sorgen könne. Das heisst konkret: ein Dach über dem Kopf, eine medizinische Notfallversorgung, Nahrungsmittel im Wert von sechs bis acht Franken pro Tag, je nach Kanton. Die Eidgenossenschaft lässt ihre ungebetenen Gäste nicht verhungern und nicht erfrieren, doch allzu wohl soll es ihnen nicht werden. Im Gegenteil: Ziel der Nothilfe ist es, abgewiesene Asylsuchende zur Ausreise zu bewegen.

Im Nothilfezentrum von Gampelen im Berner Seeland gibt es 70 Plätze, drei davon belegen die sechsjährige Hweida, ihre einjährige Schwester Wadik und Michaela, die Mutter der beiden. Sie teilen sich ein Zimmer und ein Bett. Der Raum ist heller und grösser als jener in Aarwangen, die Möbel sind zusammengewürfelt und abgeschossen, aber intakt. Doch Hoffnungslosigkeit wohnt auch in diesem Zimmer: Wenn Mutter Michaela weint, presst sie Wadik gegen ihre Brust, bis diese ebenfalls zu weinen anfängt, und Hweida rennt hinüber in den Aufenthaltsraum, um Trickfilmfiguren tonlos über den Fernsehschirm tanzen zu sehen, die Nase beinahe auf die Mattscheibe gedrückt. Michaela weint viel.

Michaelas Odyssee

Die 29-Jährige stammt aus Eritrea, sie wirkt verängstigt, mit den Nerven am Ende. Ihre Geschichte kommt stockend und in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Italienisch. Sie war 22, als sie unverheiratet schwanger wurde – eine Schande in den ländlichen Gebieten Eritreas. Ihr Vater verbot ihr, jemals wieder sein Haus zu betreten. Also zog sie zu ihrem Freund, der im Sudan illegal einen Job gefunden hatte. Tochter Hweida kam zur Welt, doch eine Familie konnten sie nicht lange sein: Der Sudan wies sie, die Fremden, aus.

Michaela verlor ihren Freund aus den Augen, sie reiste mit der Tochter nordwärts, nach Libyen, und nach einiger Zeit übers Meer nach Italien. Da sie befürchtete, die dortigen Behörden würden sie nach Eritrea zurückschaffen, zog sie weiter. Seit eineinhalb Jahren ist sie in der Schweiz, die zweite Tochter, Wadik, kam hier zur Welt.

Wo ihr Vater ist, kann Michaela dem Mädchen nicht erklären, jedenfalls ist er nicht in der Schweiz, um ihnen zur Seite zu stehen. Und auch sie werden hier nicht bleiben können: Michaela hatte bereits in Italien einen Asylantrag gestellt, die Schweiz wird sie aufgrund des Dubliner Übereinkommens dorthin zurückschicken. «Ich kann nicht zurück», wimmert sie. «Hier wäre es gut für uns alle. Ich kann nicht zurück!» Wadik, die über den Fussboden krabbelt und Zeitungspapier zerreisst, wendet ratlos den Kopf ihrer Mutter zu, die niemanden hat, der sie in den Arm nimmt.

«Als sei ich aus der Welt gefallen»

Kinder in Nothilfezentren wachsen auf in einer Welt, in der es wenig Sicherheit gibt und die Stimmung gedrückt bleibt, selbst wenn gelacht wird oder Musik aus einem Zimmer schallt. In der die Erwachsenen die Luft anhalten, wenn ein Polizeiwagen vorfährt, weil das eine Ausschaffung bedeuten kann und man nie weiss, wen es trifft. Die blankliegenden Nerven sind beinahe greifbar in den Unterkünften, die kaum je ein Einheimischer betritt.

Um die psychische Gesundheit der Bewohner steht es nicht gut. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht, den das BFM und die Kantone Ende 2009 in Auftrag gaben. «Auffallend ist die Häufung insbesondere psychischer Erkrankungen unter den Nothilfebezügern», steht darin. Hauptursache dafür sei «weniger die ökonomische Lage der Nothilfebezüger, sondern eher die Perspektivlosigkeit, die Unsicherheit und die Stigmatisierung, die mit der Situation als ausreisepflichtige Person verbunden sind». In Gampelen sagt ein 34-jähriger Afghane in mühsam formuliertem Deutsch: «Ich fühle mich, als sei ich aus der Welt gefallen. Ich bin nirgends.»

Das Leben ist leer, zu tun gibt es nichts. Arbeiten ist den Bewohnern verboten, der Tagesablauf besteht im Wesentlichen aus Schlafen, Essen und Fernsehen. In manchen Zentren bestehen Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung. Die wenigsten Bewohner entfernen sich hin und wieder für Spaziergänge vom Gebäude, in dem sie untergebracht sind – sie fürchten, Präsenzkontrollen zu verpassen oder von einer Polizeistreife angehalten und wegen illegalen Aufenthalts festgenommen zu werden.

Kinder als blosse Anhängsel betrachtet

Das Gefühl des Eingepferchtseins führt zu permanenter Frustration, verstärkt dadurch, dass auf engem Raum Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen zusammenleben. Die Spannung schlägt leicht um in Gehässigkeit, zuweilen in offene Gewalt. Immer wieder kommt es auch zu Fällen von Drogenhandel oder Prostitution.

Die Einzigen, die in den Genuss eines strukturierten Tagesablaufs kommen, sind Kinder im schulpflichtigen Alter: Sie haben Anrecht auf Unterricht an öffentlichen Schulen. Dies ist aber die einzige Sonderbehandlung, die Flüchtlingskindern zuteilwird. «Die Behörden betrachten sie als blosse Anhängsel der Erwachsenen, nicht als Gruppe, die besonders verletzlich ist und darum Schutz benötigt», kritisiert Claudia Dubacher, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht.

Die Umstände, unter denen Kinder in Nothilfezentren leben und aufwachsen müssten, würden die von der Schweiz ratifizierte Kinderrechtskonvention verletzen. «Den Kindern fehlt es an den Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung», sagt Dubacher. «Zum Beispiel die Ernährung: Auf dem Niveau der Nothilfe ist eine Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln und mit Frischprodukten nicht möglich.» Zudem gebe es kaum Plätze zum Spielen, positive Vorbilder fehlten, Familien würden häufig auseinandergerissen. «Da wachsen Menschen heran, denen elementare Lebensgrundlagen fehlen.»

Auch Esperança macht sich Sorgen um ihre Kinder. Esperança, die sich in ihrem Heimatland Angola nicht sicher fühlte, obwohl der Bürgerkrieg vorbei war, und die im Jahr 2003 als 29-Jährige ihren Coiffuresalon aufgab und in die Schweiz flog, in der Hoffnung auf ein Leben frei von Angst. Das Erhoffte fand sie hier nicht, dafür in einem Asylzentrum die Liebe, einen Landsmann, den Vater von José und Ruth, untergebracht nun in einem Zentrum bei Genf. Nein, sagt sie, es sei nicht vernünftig gewesen, Kinder zu bekommen, doch wie jeder Mensch habe sie sich nach der Geborgenheit einer Familie gesehnt, allen Widrigkeiten zum Trotz. «Aber wenn ich daran denke, in welcher Umgebung José und Ruth aufwachsen, habe ich Angst um sie.»

Dass selbst Kinder die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, ist nach Einschätzung von Magdalena Urrejola von Amnesty International Absicht – Ausdruck eines «generalpräventiven Ansatzes», wie sie sagt. «Das System zielt auf eine Vergraulungstaktik ab, man will den Leuten das Leben so lange schwermachen, bis sie untertauchen oder ausreisen. Dass Kinder davon nicht verschont werden, soll den Nothilfeempfängern signalisieren: Kinder retten euch nicht vor einer Rückkehr in euer Herkunftsland.» Das BFM will diesen Vorwurf nicht kommentieren, sondern verweist auf ein Rechtsgutachten des Bundesamts für Justiz, laut dem weder das Verfassungs- noch das Völkerrecht Leistungen an Familien vorschreibt, die über Nothilfeleistungen hinausgehen. «Auch sind uns keine Fälle bekannt, in denen Kinderrechte verletzt werden», sagt BFM-Sprecher Michael Glauser.

Aus Sicht der Behörden bewährt es sich, abgewiesenen Asylbewerbern lediglich Nothilfe zukommen zu lassen. Zum einen, weil nur die Hälfte aller Abgewiesenen überhaupt Nothilfe beantragt – vom Rest nimmt das BFM an, dass sie ausreisen. Zum anderen, weil von jenen, die 2009 Nothilfe bezogen, 17 Prozent kontrolliert abgereist sind. «Noch häufiger wird die Schweiz unkontrolliert verlassen», sagt Glauser. Ziel nach offizieller Einschätzung also erreicht: Die Aussicht, von der Nothilfe leben zu müssen, bringt die meisten abgewiesenen Asylsuchenden dazu, das Land zu verlassen.

«Ich fand das bessere Leben nicht»

Menschenrechtsorganisationen dagegen halten das System der Nothilfe für gescheitert. Dass lediglich 17 Prozent der Empfänger kontrolliert ausreisten, zeige, dass sich der Staat in eine Sackgasse verrenne. «Der Staat rüttelt mit diesem Regime kräftig an den Grundrechten», kritisiert Magdalena Urrejola von Amnesty International. «Er füttert Menschen auf niedrigstem Niveau durch und steckt sie in Unterkünfte, die sie in manchen Kantonen faktisch nicht verlassen dürfen, obwohl kein Richter sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hat, und trotzdem reisen die wenigsten dieser Menschen aus.» Amnesty International, die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und Solidarité sans frontières starten dieser Tage deshalb eine Kampagne, in der sie von Bund und Kantonen fordern, die Nothilfe zu überdenken.

In ihrem engen Zimmer in Aarwangen wühlt Ruth in Wäschestücken. José ist auf den Heizkörper geklettert und klebt am Fenster, blickt nach draussen, wo sich die Nebeldecke auflöst und die Sonne durchbricht. Er brabbelt Unverständliches. Noch weiss er nicht, dass er bald nach Angola fliegen wird. Esperança hat einer kontrollierten Ausreise zugestimmt, die Vorbereitungen laufen.

«Ich hatte einen Traum von einem besseren Leben, deshalb kam ich hierher», sagt sie achselzuckend. «Ich fand das bessere Leben nicht, und Träume habe ich keine mehr. Aber meinen Kindern will ich eine Zukunft ermöglichen. Wenn das hier nicht geht, dann muss es eben in Angola gehen.» José, Ruth und Esperança werden ihr Zimmer nächstens räumen. Lange wird es nicht leer bleiben.