Beobachter: Seit über 20 Jahren gelingt keine Rentenreform mehr. Früher klappte das besser.
Robert FluderDefinitiv. Bei der 8. AHV-Revision in den 1970erJahren wurden die Beiträge verdoppelt. Stellen Sie sich das vor! Heute gibt es nur schon bei einer Erhöhung von 0,3 Lohnprozenten eine riesige Diskussion.


Was hat sich seither geändert?
Die damalige Vorlage kam am Ende eines langen Wirtschaftsaufschwungs. Der Kuchen wurde grösser, man konnte leichter etwas für die Alterssicherung abzweigen. Heute verteidigt jeder sein Gärtli. Dabei könnten wir uns eine grössere Reform leisten. Wir sind ein so wohlhabendes Land, und trotzdem ist es uns noch immer nicht gelungen, mit der AHV eine Existenzsicherung zu garantieren. Fast ein Fünftel aller Rentnerinnen und Rentner ist auf Ergänzungsleistungen angewiesen oder arm. Das darf doch nicht sein. 


Nimmt die Altersarmut zu? 
Ja, jedenfalls wenn man die Abhängigkeit von Ergänzungsleistungen betrachtet. Das ist eigentlich erstaunlich. Die berufliche Vorsorge wurde ja erst 1985 obligatorisch, bis dahin zahlten die Leute weniger in ihre Pension ein. Heute ist das anders, und entsprechend müsste es Rentnerinnen finanziell besser gehen. Wir haben aber festgestellt, dass die Quote der Neurentner, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, deutlich zunimmt. Das hat verschiedene Gründe, zum Beispiel dass das Arbeitslosenrisiko grösser ist und sich gesundheitliche Risiken mehren.


Frauen sind besonders im Nachteil, wie Sie 2016 in einer Studie herausgefunden haben. 
Armut im Alter kann alle treffen, Frauen sind aber aus strukturellen Gründen besonders gefährdet. Für die untersuchten Jahrgänge, die zwischen 2002 und 2012 in Rente gingen, stellten wir ein durchschnittliches Rentengefälle zwischen Mann und Frau von 37 Prozent fest. Am grössten war dieser sogenannte Gender Pension Gap in der beruflichen Vorsorge mit 63 Prozent. In der AHV waren es nur knapp 3 Prozent.


Frauen arbeiten heute länger und verdienen mehr. Löst sich der Geschlechterunterschied irgendwann von selber auf?
Es wird die Ungleichheit etwas abfedern. Trotzdem ist die Rollenverteilung noch immer sehr traditionell, und strukturelle Ungleichheiten halten sich hartnäckig: In Tieflohnsegmenten arbeiten vor allem Frauen. Sie arbeiten auch viel häufiger Teilzeit als Männer. Lohngleichheit ist noch nicht erreicht. Der Gender Pension Gap wird sich in absehbarer Zeit nicht in Luft auflösen. Er verschiebt sich, aber nur sehr langsam. Hinzu kommen neue Risiken: die hohe Scheidungsrate und die veränderte Familiensituation.


Warum das?
Früher konnten sich vor allem Reiche eine Scheidung leisten, das ist heute nicht mehr so. Besonders bei Familien mit tiefem Einkommen bleibt das finanzielle Risiko häufig an der Frau hängen. Weil Scheidungen in den Sozialversicherungen noch immer nicht genügend abgesichert sind, wirkt sich das bis ins Alter aus. 


Keine nachhaltige Finanzierung, wachsende Altersarmut, Geschlechterunterschiede: Eigentlich sind sich alle einig, dass etwas getan werden muss. Wo harzt es?
Nicht alle haben ein Interesse an einer besser ausgebauten AHV. Die Finanzwirtschaft profitiert zum Beispiel vom jetzigen Fokus auf die Selbstvorsorge. Sparen in der dritten Säule ist aber für viele keine Option. Bei der Mehrheit der Bevölkerung macht die AHV den grössten Teil der Alterssicherung aus. Laut Verfassungsauftrag müsste sie als Grundrente existenzsichernd sein. Das ist nicht der Fall. 

«Wenn wir primär die AHV stark ausbauen, fallen die Ungleichheiten bei zweiter und dritter Säule weniger ins Gewicht.»

Robert Fluder, Soziologe

Die AHV ist unter Druck. Jetzt soll das Frauenrentenalter steigen. Das ist umstritten.
Ich verstehe das Argument gut, dass Sparmassnahmen nicht auf Kosten der Frauen gehen sollen. Sie sind im Erwerbsleben oft benachteiligt und leisten viel unbezahlte Arbeit, was abgesehen von der AHV im Vorsorgesystem nicht berücksichtigt wird. Aber zuerst Lohngleichheit schaffen, bevor das Rentenalter erhöht wird – das kann leider noch lange dauern. 


Frauen leben länger und beziehen länger Rente als Männer. Sollten sie nicht auch länger arbeiten?
Eine solche Logik lässt sich unendlich weiterspinnen: Bauarbeiter haben eine wesentlich tiefere Lebenserwartung – sollten sie deshalb höhere Renten erhalten? Und Pfarrer tiefere, weil sie so lange leben? 


1997 wurde das Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 Jahre erhöht. Wieso funktionierte damals, was heute so kontrovers ist?
Auch damals sorgte die Erhöhung für Diskussionen. Aber weil Frauen durch das Splitting und die Betreuungsgutschriften viel besser gestellt wurden, schluckten sie die Kröte. Das war für die Gleichstellung ein Riesenschritt, fast eine Revolution. Nur deshalb gibt es heute bei der AHV praktisch keinen Gender Pension Gap – ganz im Gegensatz zur zweiten und dritten Säule.


Bei der AHV sollen die Frauen in den sauren Apfel beissen. Ob ihre zweite Säule Verbesserungen erfahren wird, ist offen. Diese Revision steht erst an. 
Das ist etwas unbefriedigend. Unmittelbar am meisten macht man für die Frauen – und für die Mehrheit unserer Bevölkerung –, wenn die AHV existenzsichernd ist. Natürlich braucht es Verbesserungen bei der beruflichen Vorsorge. Aber ich finde, wir müssten primär die AHV stark ausbauen. Dann fallen die Ungleichheiten bei Frauen und Geringverdienenden bei beruflicher Vorsorge und dritter Säule weniger ins Gewicht.


Und wer soll das finanzieren?
Unsere Wirtschaft bräche nicht zusammen, wenn wir die Lohnbeiträge für die AHV etwas erhöhen würden. Denkbar wären auch zusätzliche Finanzierungsquellen wie eine Erbschafts- oder Vermögenssteuer oder höhere Mehrwertsteuern. Angesichts der immer ungleicheren Verteilung von Wohlstand müsste man die Wohlhabendsten stärker zur Kasse bitten. 


Die Jungfreisinnigen haben ein anderes Rezept. Sie wollen das Rentenalter nach der Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung richten.
Da wir länger leben, kann eine Erhöhung des Rentenalters Sinn machen. Das allerdings nur im Rahmen einer grundlegenden Reform, die auch die neuen Risiken abdeckt und bei einer lebenslangen Erwerbstätigkeit eine existenzsichernde Rente garantiert. Sinnvoller wäre eine Koppelung des Rentenalters an die Erwerbsdauer. Wer eine längere Ausbildung geniessen durfte, könnte auch etwas länger arbeiten. Wer schon mit 20 in einem aufreibenden Beruf steckte, dürfte sich früher pensionieren lassen. 


Wie sehen Sie die Chancen der aktuell diskutierten Altersreform? 
Die Situation ist nicht hoffnungslos. Trotzdem bekommt es unsere Gesellschaft kaum hin, auch nur kleine «Brösmeli» am Rentensystem zu ändern. Dabei wäre jetzt Zeit für eine grundlegende Reform. Einen grossen Wurf. Sonst hinken wir der Realität ständig hinterher. 

Nächste Anläufe für Reformen

Seit über 20 Jahren bekommt die Schweiz keine Rentenreform mehr hin. Der letzte Versuch wurde 2017 an der Urne versenkt. Nun nehmen Bundesrat und Parlament einen neuen Anlauf. Im Gegensatz zum letzten Mal sollen erste und zweite Säule (AHV und berufliche Vorsorge) getrennt reformiert werden. 2022 wird vermutlich mindestens eine der beiden Vorlagen zur Abstimmung kommen. Ob und wann über die Renteninitiative und die Initiative für eine 13. AHV-Rente abgestimmt wird, ist noch offen. 

Zur Person

Der Soziologe Robert Fluder ist emeritierter Professor der Berner Fachhochschule und leitete dort bis 2015 den Schwerpunkt Soziale Sicherheit. Zuvor verantwortete er beim Bundesamt für Statistik die Sektion Soziale Sicherheit und den Aufbau der Sozialhilfestatistik.

Robert Fluder
Quelle: Yoshiko Kusano/Keystone
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