Beobachter: Wenn Sie Geschichten wie die des kleinen Damian (Name geändert) hören, dem die Krankenkasse einen Gentest nicht bezahlt, verdrehen Sie die Augen...
Sabina Gallati:
...weil das so typisch ist! Es geht in einem solchen Fall um eine sogenannte CGH-Analyse, mit der sich feststellen lässt, ob ein Chromosomabschnitt verlorengegangen ist oder sich verdoppelt hat. Das kostet etwa 2800 Franken. Klar, das ist nicht wenig, aber kein Vergleich zu den Summen, die etwa für die täglich zu Hunderten durchgeführten Tomografien anfallen – und die die Krankenkassen bezahlen, ohne sie zu hinterfragen. Dass sie demgegenüber solchen Widerstand gegen Gentests leisten, ist für mich völlig unverständlich.

Beobachter: Die Kassen sehen wohl einen Spareffekt.
Sabina Gallati: Das wäre aber viel zu kurzfristig gedacht. Denn genetische Untersuchungen muss man nur einmal machen, dann hat man eine Antwort. So kann man sich viele weitere, mitunter kostspielige konventionelle Abklärungen ersparen.

Sabina Gallati, 61, studierte Biologie und Medizin. Ab 1997 baute sie am Berner Inselspital den Bereich Humangenetik zu einer eigenen Abteilung auf, die sie seither leitet. Gallati ist Präsidentin der Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen (Gumek) des Bundes.

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Hinzu kommt, dass beispielsweise die erwähnte CGH-Methode im Krankenversicherungsgesetz auf der Analyseliste steht und somit eigentlich eine Pflichtleistung wäre. Trotzdem verlangen die Kassen auch in solchen Fällen eine Einzelprüfung. Dazu muss man wissen: Damit eine Methode auf die Analyseliste kommt, müssen wir einen etwa 50-seitigen Bericht abliefern, in dem die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Untersuchung nachgewiesen wird. Da frage ich mich schon: Was soll denn diese Liste, wenn sie nicht bindend ist?

Beobachter: Im Fall von Damian argumentiert die Kasse, ein Gentest sei «nicht therapierelevant».
Sabina Gallati: Die Standardbegründung. Für die Betroffenen ist das ein «Chlapf» ins Gesicht. Genetisch bedingte Krankheiten lassen sich nun einmal nicht kausal therapieren, so weit ist die Medizin noch nicht. Aber man kann sehr wohl therapeutische Massnahmen zur Linderung ergreifen – je genauer die Diagnose, umso gezielter. Gerade bei geistigen Beeinträchtigungen geht es darum, Kinder maximal zu fördern, schliesslich hat jedes Kind Begabungen, auch ein behindertes. Hinzu kommt, dass man nur dann die richtigen Medikamente einsetzen kann, wenn man die Ursache einer Erkrankung kennt.

Beobachter: Lauter schlagende Argumente. Weshalb trotzdem der Widerstand der Krankenkassen gegen Gentests?
Sabina Gallati: Wenn wir das wüssten! Der Kostenfaktor allein kann es nicht sein. Denn wir wissen von den wenigen Kassen, die solche Tests übernehmen, dass der Gesamtbetrag für genetische Tests bei weniger als einem Prozent ihrer Gesundheitsausgaben liegt. Auch deshalb ist diese zunehmende Verweigerungshaltung ein schlechter Witz.

Beobachter: Wenn die Kasse klemmt, heisst das für die Eltern: auf den Gentest verzichten – oder selber bezahlen?
Sabina Gallati: Darauf läuft es in vielen Fällen hinaus. Aber dann stellt sich natürlich die Frage, wie vermögend die Eltern sind. So landen wir schnell bei der Zweiklassenmedizin.

Beobachter: Was sind die unmittelbaren Konsequenzen, wenn solche Tests verunmöglicht werden?
Sabina Gallati: Primär wird eine sichere Diagnose verhindert, und dadurch werden therapeutische Massnahmen verzögert. Zentral sind aber auch die psychologischen Aspekte für die Eltern – auch wenn das für die Kassen natürlich nicht zählt. Es ist erwiesen, dass die allermeisten Eltern mit einer Krankheit oder Behinderung ihres Kindes besser umgehen können, wenn sie eine Diagnose haben und die Ursache dafür kennen. Auch Schuldgefühle lassen sich so abbauen.

Beobachter: Schuldgefühle? Gendefekte sind doch eine Laune der Natur, da ist niemand schuld.
Sabina Gallati: Stimmt. Trotzdem kommt es häufig vor, dass Eltern befürchten, etwa während der Schwangerschaft etwas falsch gemacht zu haben. Doch wenn wir ihnen erklären können, dass niemand etwas dafürkann, nehmen wir diesen Druck von ihnen weg. Mit einer Diagnose können die Eltern die Situation besser akzeptieren und auch ihr weiteres Leben darauf einstellen. Und sie können sich ihrem Umfeld besser erklären. Nicht zuletzt gegenüber Instanzen wie der Invalidenversicherung. Ohne Diagnose gibt es keine Chance auf IV-Leistungen.

Beobachter: Die meisten Genkrankheiten sind vererbbar. Wäre es sinnvoll, entsprechende Tests auf Familienangehörige auszuweiten?
Sabina Gallati: Auf jeden Fall. Genetische Erkrankungen betreffen nicht nur einzelne Personen, sondern haben immer auch Konsequenzen für deren Familien. Ein Angehöriger kann selber wohl gesund sein, aber trotzdem ein mutiertes Gen in sich tragen, das er weitervererben kann. Hier könnten wir zuverlässige Risikoberechnungen machen. Stellen Sie sich vor, unter den Angehörigen ist ein junges Paar in der Familienplanung: Die müssten doch ein Anrecht auf eine solche Trägerabklärung haben. Aber das bezahlen die Krankenkassen natürlich nicht – die Leute sind ja gesund! Ich finde das unethisch. Schliesslich übernehmen die Betroffenen Verantwortung und setzen sich damit auseinander, ob sie besser auf Kinder verzichten sollten.

Beobachter: Welche Forderung leiten Sie daraus ab?
Sabina Gallati: Dass die Kostenträger genetische Erkrankungen und Untersuchungen dazu anders anschauen: mit mehr Weitblick. Als Genetikerin argumentiere ich nicht gern mit Geld, aber wir rechnen den Kassen immer wieder vor, was sie sparen, wenn sie solche Trägerabklärungen finanzieren würden und wenn man so verhindern kann, dass ein schwerkrankes Kind zur Welt kommt.

Beobachter: Mit welchem Erfolg?
Sabina Gallati: Leider lenken viele Krankenkassen nur in Ausnahmefällen ein. Das liegt auch daran, dass das Wissen über genetische Krankheiten selbst bei den Vertrauensärzten der Kassen gering ist, es gibt kaum Spezialisten dafür. Und was sie nicht kennen, lehnen sie ab – das ist fatal.

Beobachter: Genetik hat etwas von «Schicksal spielen» an sich, ist irgendwie unheimlich. Spielt das bei diesen Vorbehalten mit?
Sabina Gallati: Ich weiss es nicht. Aber Ihre Beobachtung ist schon richtig: Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Humangenetik unterschwellige Ängste auslöst. Als medizinische Disziplin steckt sie noch in den Kinderschuhen, der Kenntnisstand ist vergleichsweise tief. Die Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen, die ich präsidiere, empfiehlt deshalb im Hinblick auf die anstehende Gesetzesrevision unmissverständlich, die Aus- und Fortbildung im Bereich Genetik massiv auszubauen.

Beobachter: Liegt die Schweiz im Hintertreffen?
Sabina Gallati: Nicht in Bezug auf die Forschung. Aber was die Situation im Gesundheitswesen anbelangt, namentlich bezüglich Bezahlung von Medikamenten und Gendiagnostik, sind viele Länder ein gutes Stück weiter.

Beobachter: Der Bund legt nächstens ein nationales Konzept für einen besseren Umgang mit seltenen Krankheiten vor. Bringt das den Betroffenen etwas?
Sabina Gallati: Ich erhoffe mir eine Verbesserung der Situation. Das Konzept erfasst alle relevanten Punkte, bei denen der Hebel angesetzt werden muss. Ich habe vom federführenden Bundesamt für Gesundheit auch den Eindruck gewonnen, dass sie es ernst meinen und nicht bloss einen Papiertiger produzieren wollen. Ich denke tatsächlich, dass da etwas in Bewegung gekommen ist.

Beobachter: Das Thema wirft auch zahlreiche ethische Fragen auf – und die wird ein Strategiepapier kaum beantworten.
Sabina Gallati: Aber es zwingt uns hoffentlich, uns verstärkt mit diesen Aspekten auseinanderzusetzen. Ein Beispiel: Das Schweizer Gesundheitssystem ermöglicht es, dass bei einer 75-jährigen Person noch eine Herztransplantation gemacht wird. Doch das gleiche System schliesst andere Menschen, die den grössten Teil ihres Lebens noch vor sich haben, von Leistungen wie ebendiesen Gentests aus. Das ist für mich ethisch fragwürdig und hat auch einen zynischen Beigeschmack.

Beobachter: Sind Menschen mit seltenen Krankheiten doppelt gestraft?
Sabina Gallati: Ja, das ist leider so. Zum einen leiden sie an einer meist gravierenden chronischen Krankheit, das ist Bürde genug. Und wenn sie sich zusätzlich noch mit solchen finanziellen Dingen herumschlagen müssen, empfinde ich das als total diskriminierend. Noch schlimmer: Sie werden diskriminiert für etwas, wofür niemand etwas kann.

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Quelle: Luxwerk