Anfang 2015 hat das Bundesgericht fast unbemerkt ein bedeutsames Urteil gefällt: Ein arbeitsloser Mann aus dem Kanton Freiburg beantragte die Konkurseröffnung, weil er mehr als 100'000 Franken Schulden hatte. Doch das Bundesgericht wies sein Gesuch in letzter Instanz ab. Die paradoxe Begründung: Es sei missbräuchlich, dass der Schuldner sich für zahlungsunfähig erkläre. Er habe ja kein Vermögen mehr, das man an die Gläubiger verteilen könne.

«In den allermeisten Fällen besitzen Schuldner keine Vermögenswerte mehr. Somit hat das Bundesgericht den Privatkonkurs praktisch abgeschafft», sagt Mario Roncoroni von der Berner Schuldenberatung. Für überschuldete Personen habe der Entscheid gravierende Folgen: «Sie können nun bis ans Lebensende aufs Existenzminimum gepfändet werden.»

«Das ist gesetzwidrig»

Solche Überlegungen sind dem Bundesgericht offensichtlich egal. Am 14. März verweigerte es erneut einen Privatkonkurs, mit gleicher Begründung – einem Mann, der fast 350'000 Franken Schulden hatte. Das Urteil wurde von den Bundesrichtern Nicolas von Werdt, Grégory Bovey und Christian Herrmann gefällt, die bereits am ersten Entscheid beteiligt waren.

Die beiden Urteile stossen in Fachkreisen auf massive Kritik. «Die Entscheide sind schlicht und einfach gesetzwidrig», sagt der Berner Anwalt Dominic Gasser. «Bei der grossen Gesetzesrevision von 1994, als die Bedingungen für den Privatkonkurs geändert wurden, war nie die Rede davon, dass der Schuldner ein Minimum an Aktiven haben muss, damit die Gläubiger in den Genuss einer minimalen Dividende kommen.» Gasser betreute während 20 Jahren im Bundesamt für Justiz den Fachbereich Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (SchKG). Er war federführend bei der Gesetzesrevision und gilt in der Schweiz als die SchKG-Koryphäe schlechthin.

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Quelle: Matthias Hofstetter/RDB

Inzwischen sind mehrere Gerichte auf die Lausanner Fehlurteile hereingefallen, zeigt eine Umfrage des Beobachters. Nicht nur erstinstanzliche Gerichte in Aarau, Genf und Zofingen wenden die gesetzwidrige Praxis bereits an, sondern auch die Obergerichte in den Kantonen Neuenburg, Bern und Aargau. Sie alle verweigerten die Konkurseröffnung bei Schuldnern, die mittellos waren. «Es kann nicht richtig sein, dass der Konkurs gerade den hoffnungslosesten Fällen verweigert wird», ärgert sich Roncoroni.

Gerichte weigern sich

Die beiden Bundesgerichtsurteile stossen allerdings auch bei vielen Gerichten auf Unverständnis. «Ich kann diese Urteile nicht nachvollziehen und werde ihnen daher auch nicht folgen», sagt zum Beispiel Felix Ziltener, Konkursrichter am Bezirksgericht Zürich. Aus dem gleichen Grund halten sich auch die Gerichte von Basel-Stadt, Bern-Mittelland, Nidwalden, St. Gallen und Zug nicht an das Diktat aus Lausanne.

Schuldenexperte Mario Roncoroni hofft nun auf einen Musterprozess, der beim höchsten Gericht einen Meinungsumschwung bewirken könnte. Denn: «Auch Bundesrichter können Fehler machen und diese später wieder korrigieren.»