Schon nach zehn Minuten ist mir schwindlig. Schweissperlen auf der Stirn, schwarze Flecke vor den Augen, ein Sausen im Ohr. Ringsum verknotete Gestalten, nackte Haut, stickige Luft, schummriges Licht. Von fern schallt Kursleiter Stefans Singsang: ruhig bleiben, atmen, auf die Knie. Zwei Matten weiter sitzt eine Leidensgenossin, schaut zu Boden, ringt nach Luft. Stefan ist vorbereitet. Schnell springt er in seiner Badehose vom Podest, geht leise aus dem Raum und kommt mit Traubenzucker zurück.

An diesem Abend treffen sich 34 Frauen und Männer in Zürich zum Bikram-Yoga: 26 Übungen, 38 Grad, 90 Minuten. Wieso tut sich das jemand an? Ich bin absolute Anfängerin, war noch nie in der Hitze-Turnstunde.

Hat das nicht etwas Schmuddeliges?

Etwas mulmig ist mir schon bei der Anmeldung. Halbnackt zwischen Fremden schwitzen – hat das nicht etwas Schmuddeliges? Bin ich überhaupt fit genug? Niemand aus meinem Umfeld hat Erfahrung mit Bikram-Yoga, Schauergeschichten eines mutigen Bekannten kennt trotzdem jeder: Opfer 1 litt noch vier Tage danach an Kopfschmerzen, Opfer 2 wollte nach einer Viertelstunde das Fenster aufreissen, Opfer 3 verliess den Raum kriechend.

In Onlineforen treffe ich hingegen auf eine Reihe begeisterter Wiederholungsschwitzer. Da ist Pierino mit Knieschmerzen, Loraine mit Rückenproblemen und Miguel, der den ganzen Tag im Büro sitzt. Sie alle wollen nicht mehr auf Bikram-Yoga verzichten, denn es sei gerade bei körperlichen Beschwerden sehr schonend und dennoch effektiv.

Bikram-Yoga macht man nach dem ersten Mal also nie mehr oder immer wieder.

Ich zähle mich innerlich bereits zur ersten Gruppe. Weil ich Hitze nicht mag. Mit Hitze meine ich Temperaturen über 25 Grad. Schon wenn im Sommer der erste Schweisstropfen rollt, schreit mein Kreislauf um Hilfe. Ich gehöre zu den Leuten, die schnell und übermässig schwitzen. Die viel Sport treiben und trotzdem immer wie Anfänger aussehen: roter Kopf, nasse Haare, Schnaubgeräusche.

Und trotzdem will ich Bikram-Yoga ausprobieren. Weil es im November kalt ist – und frieren tu ich ja auch nicht gern.

Yoga ist nicht gleich Yoga

Mehr als 200'000 Frauen und Männer praktizieren in der Schweiz Yoga, hat das Bundesamt für Statistik errechnet. Die bekannteste Form ist Hatha-Yoga. Dabei soll durch die Kombination von körperlichen Übungen, Atemübungen und Meditation ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist hergestellt werden. Dann gibt es noch Kundalini-Yoga, das den Fokus auf das Erlernen der richtigen Atmung legt. Körperlich anspruchsvoller ist Ashtanga, Power-Yoga ist eine Form davon.

Bikram-Yoga oder Hot Yoga besteht aus 26 Übungen, die man bei einer Raumtemperatur von 38 bis 40 Grad durchführt. Die Preise variieren zwischen 35 und 46 Franken pro 90-minütige Lektion. 

«Dein einziges Ziel ist es, 90 Minuten lang im Raum zu bleiben und jede Übung mindestens einmal zu versuchen», grinst Stefan Tanner und wünscht mir viel Glück. Zusammen mit seinem Lebenspartner Steffen – unter Yogis duzt man sich – leitet er «Bikram Yoga Zürich».

Im Studio ist es heiss wie in Indien. Dort hat der Yogameister Bikram Choudhury Bikram-Yoga in den sechziger Jahren ins Leben gerufen. Aus den 84 Haupt-Yogaübungen wählte er 26 besonders schonende. Sie werden nun weltweit in derselben Reihenfolge unterrichtet. Die Hitze soll die Verletzungsgefahr verringern und Giftstoffe aus dem Körper schwemmen. Netter Nebeneffekt: Beim Schwitzen werden während einer Lektion 800 bis 1000 Kalorien verbrannt – gleich viel wie bei einer 90-minütigen Joggingrunde. Verspricht zumindest die Website.

Bevor es losgeht, muss sich der Körper an die Temperatur gewöhnen. Stumm liege ich auf dem Rücken und spüre förmlich, wie mir der grüne Matchabeeren-Drink, den mir Stefan vor der Stunde gereicht hat, wieder aus den Poren fliesst. Machts gut, Mineralien – auf Wiedersehen, Würde. Mein Kopf ist knallrot. Stefan hüpft in seiner engen Speedo-Badehose aufs Podest, sein Partner Steffen streckt sich in einer winzigen, violetten Unterhose. Die Frauen in meiner Nähe stellen eine unverschämte Bräune und Bauchmuskeln zur Schau. Alles schöne Menschen, denke ich, doch leider läuft mir der Schweiss in die Augen.

Stefan startet seinen Singsang. «Los gehts mit Pranayama», verkündet er, und die Yogis folgen seinem Befehl: Hände falten, Ellbogen in die Höhe, Nacken lockern, atmen. Und zwar nicht irgendwie: ein durch die Nase, aus durch den Mund. Langsamer, tiefer, lauter. Bei jeder Übung werden diejenigen Muskeln und Gelenke aufgewärmt, die bei der nächsten Pose gebraucht werden. Das Herz-Kreislauf-System wird angeregt, der ganze Körper kommt in Fahrt.

Bei der nächsten Übung werden wir zum Halbmond. Hände falten, Arme strecken, Körper zur Seite – mir wird wieder schwindlig. Also Augen auf, fester Stand, bewusst atmen. Wie es mir Stefan vor der Stunde erklärt hat. Für einen Moment verschwimmen die halbnackten Yogis zu einem hautfarbenen Brei, dann sehe ich wieder klar. Violette Shorts, muskulöse Schultern, ein Brustwarzen-Piercing. Rötliches Licht, farbige Matten, glänzende Haut. Gierig trinke ich aus meiner Wasserflasche.

Jetzt kommt der Adler. Ich beobachte mein Scheitern live im Spiegel: Ein Bein ums andere geschlungen, balanciere ich auf einem Fuss und versuche, meine Lymphdrüsen zu massieren, wie Stefan es rät. Wie soll denn das funktionieren? Aus Fruchtbarkeit – diese verspricht der Adler – wird wohl nichts. Fuss rauf, Arm runter. Atmen, schwitzen, stöhnen. Ein Krampf in der rechten Wade, unterdrücktes Fluchen. Und Stefan singt, summt und säuselt weiter vor sich hin – die ganze Zeit. Noch am selben Abend werde ich einen positiven Effekt spüren, das hat er mir vor der Stunde versprochen: «Gestresst vorher, blubbernd vor Lebensenergie und Freude nachher.»

«Ich konzentriere mich nicht mehr auf die anderen, spüre meine Muskeln, atme regelmässig und bewusst.»

So überzeugt von den yogischen Wirkungen sind aber nicht alle. Eingefleischte Hatha-Yogis kritisieren, Bikram Choudhury lege zu wenig Wert auf die Balance zwischen Körper und Geist. Und er wolle Yoga kommerzialisieren. Er behauptete, seine Methode sei urheberrechtlich geschützt – doch das United States Copyright Office dementierte. Deshalb gibt es heute Ableger wie Hot Yoga, die zum Teil mit einer anderen Unterrichtsdauer oder Temperatur arbeiten.

Choudhury ist eine höchst umstrittene Person. Immer wieder prahlte er in den Medien mit seinem Reichtum und zeigte sich ignorant gegenüber der traditionellen Yogaphilosophie. 2014 klagten ihn mehrere Frauen wegen sexueller Übergriffe an. 2016 wurde er zu 6,5 Millionen Dollar Schadenersatz und Schmerzensgeld verurteilt. Auch aus gesundheitlicher Perspektive schwebt Bikram-Yoga im luftleeren Raum: Weder heilende Effekte noch negative Auswirkungen konnten bisher nachgewiesen werden.

«Halleluja, schreit mein Gleichgewichtssinn»

In der zweiten Hälfte des Kurses geht es endlich auf den Boden. Halleluja, schreit mein Gleichgewichtssinn, und tatsächlich läuft es immer besser. Ich konzentriere mich nicht mehr auf die anderen, spüre meine Muskeln, atme regelmässig und bewusst. Plötzlich kann ich nicht nur meine Zehen berühren, sondern den ganzen Fuss umfassen. Mein Körper gehorcht, kann sogar ganz gut mithalten. Ich ertappe mich beim Gedanken, dass das alles gar nicht mal so übel ist. Und schon sind die 90 Minuten vorbei. Savasana, Todesstellung. Rücken am Boden, Blick nach oben. Atmen, entspannen.

Stefan verlässt sein Podest. Die Yogis bleiben noch eine Weile auf der Matte, bevor einer nach dem anderen aus dem Raum schleicht. Verklebte Haare, schrumplige Fingerspitzen, müde Muskeln. Ich bin durstig, erschöpft und – zugegebenermassen – glücklich. Aber ob ich wieder ins Bikram-Yoga gehe? Sagen wir mal so: vorläufig nicht.

Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox
«Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox»
Jasmine Helbling, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter