Sie wollten zusammen etwas reissen, mit Ende 50 nochmals neu durchstarten. Auf ihrer Visitenkarte steht «Die Brokanteure Bonnie und Clyde». Und genau so fühlten sich Giuseppe und Renate Milazzo: als Paar unbesiegbar.

Sie hatten sich verliebt, verlobt, verheiratet – alles im gleichen Jahr. Sie gaben ihre Jobs als Hauswart und in der Altenpflege auf und eröffneten im November 2019 ihren eigenen Brocki-Laden. Giuseppe Milazzo kannte sich mit diesem Geschäft aus. Er hatte seit langem nebenher Wohnungsräumungen gemacht und früher schon einmal ein Brocki geführt.

Dann kam Corona und zerstörte den wahr gewordenen Traum.

«Alles war so verheissungsvoll, und anfangs lief es ja auch super», sagt Giuseppe Milazzo. 18 Monate und zwei Shutdowns später weiss er nicht, wie er im nächsten Monat seine Rechnungen bezahlen soll. «Ich kann nachts nicht schlafen. Der Winter macht mir Angst.» Auch Renate Milazzo ist voller Pessimismus: «Ich befürchte, dass das niemals aufhört und wir nie mehr da rauskommen.» Bonnie und Clyde sitzen in ihrem schönen Brocki-Laden und wissen weder ein noch aus.

«Wir hätten uns gewünscht, dass geholfen wird»

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Viele stecken wegen Corona in der Krise. Die Milliarden des Bundes erreichen aber nicht alle Betroffene. Dazu gehört das Ehepaar Milazzo: Trotz staatlicher Hilfen fallen sie zwischen Stuhl und Bank. Mit Hilfe von SOS Beobachter konnten sie ausstehende AHV-Beiträge begleichen.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Eigentlich gab es für Menschen wie sie in der Corona-Krise Überbrückungskredite, Härtefallhilfen, Erwerbsersatzzahlungen, Kurzarbeitsentschädigungen. Und diese Finanzspritzen für die Wirtschaft haben ja auch gewirkt: Die Arbeitslosenquote ist wieder auf einem ähnlich tiefen Niveau wie vor der Pandemie. Die Sozialhilfequote ist sogar rückläufig, die befürchtete Konkurswelle ist ausgeblieben, und die Konjunkturaussichten sind gut.

Entwicklung der Arbeitslosenquote in der Schweiz während der Corona-Pandemie
Quelle: Seco – Infografik: Andrea Klaiber
Entwicklung der Anzahl der Sozialhilfebeziehenden in der Schweiz während der Corona-Pandemie
Quelle: SKOS-Fallzahlen-Monitoring [repräsentiert 58 Prozent aller Sozialhilfebeziehenden] – Infografik: Andrea Klaiber
Zwischen Stuhl und Bank

Doch die Unterstützung kam nicht bei allen an. Wenn Giuseppe und Renate Milazzo in den Jahren 2018 und 2019 im Schnitt mindestens 50'000 Franken Umsatz gemacht hätten, dann hätten sie auch Härtefallgelder erhalten. Den Laden haben sie aber erst im November 2019 eröffnet.

Auch die Arbeitslosenkasse zahlte nichts. Als Selbständige galten sie als nicht vermittelbar. Es half auch nichts, dass sie den Laden dann nur noch am Samstag öffneten. Bei der Sozialhilfe sagte man ihnen, sie müssten das Geschäft auflösen. Doch aus dem Geschäftsmietvertrag kommen sie nicht von heute auf morgen raus.

Das Paar erhält rund 2000 Franken Corona-Erwerbsersatz. Das reicht für etwas mehr als die Ladenmiete – aber nicht zum Leben.

«Irgendwie habe ich immer Angst, einen Fehler zu machen.»

Giuseppe Milazzo

Renate Milazzo, unterdessen 60, hat inzwischen einen Minijob gefunden. Sie putzt an ein bis zwei Tagen pro Woche Hotelzimmer. Der 57-jährige Giuseppe Milazzo hält sich mit Schreiner- und Malerarbeiten über Wasser. Das war schon vorher sein zweites Standbein, doch seit Corona sind die Aufträge eingebrochen. Er freut sich nicht einmal mehr, wenn er eine Offerte machen kann: «Irgendwie habe ich immer Angst, einen Fehler zu machen.»

In seiner Not wandte sich das Ehepaar an die Stiftung SOS Beobachter. So konnten sie wenigstens die geschuldeten AHV-Beiträge bezahlen. Lücken in der ersten Säule wären für die beiden verheerend. Sie haben ihr Pensionskassengeld in den Laden gesteckt.

Renate und Giuseppe Milazzo stehen für all die Menschen, die trotz staatlicher Hilfen zwischen Stuhl und Bank gefallen sind und deren Schicksale hinter den positiven Wirtschaftszahlen verborgen bleiben. Sie gehören zu den vielen stillen Opfern der Corona-Krise. Sie sind ohne Stimme und haben keine Lobby.

Grosse Herausforderung für Hilfswerke

Hilfswerke wie Caritas, Heks, Heilsarmee, Winterhilfe und das Rote Kreuz wurden in den letzten anderthalb Jahren von Hilfesuchenden überrannt. Sie stampften neue Angebote aus dem Boden, organisierten Lebensmittelausgaben, Telefonberatungen, und sie zahlten offene Rechnungen, wenn es nicht anders ging.

Auch für SOS Beobachter ist die Corona-Krise eine Herausforderung. Die telefonischen Anfragen haben sprunghaft zugenommen. Vielen hat die Stiftung nur schon dadurch geholfen, dass sie sie an die richtige staatliche Stelle verwies. «Wir unterstützen nur subsidiär, also wenn Kosten nicht durch die öffentliche Hand oder eine Sozialversicherung gedeckt sind», sagt SOS-Geschäftsleiter Beat Handschin. Da laufend neue Staatshilfen beschlossen wurden, galt es, die Übersicht nicht zu verlieren.

Die Krise hat jene am härtesten getroffen, die schon vorher wenig hatten: Angestellte in der Gastronomie oder der Eventbranche. Kunstschaffende, die nicht mehr auftreten durften. Leute, die mit 80 Prozent Kurzarbeitslohn nicht durchkamen, solche, die im Stundenlohn oder auf Abruf arbeiten, keinen Arbeitsvertrag haben, illegal beschäftigt sind. Beim Heks meldeten sich beispielsweise viele Hausangestellte, deren Auftraggeber nicht daran dachten, den Lohn weiterzuzahlen, wenn sie vorübergehend auf ihre Dienste verzichteten.

Wachsende Ungleichheit

Corona hat die Armen ärmer gemacht – und die Reichen reicher. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der ETH Zürich. Demnach wurden Personen mit tiefem Einkommen häufiger in Kurzarbeit geschickt oder entlassen. Im Schnitt büssten die ärmsten Haushalte rund 22 Prozent ihres Einkommens ein, die reichsten bloss 8 Prozent. Reiche konnten mehr Geld auf die Seite legen, etwa weil Ferien und Veranstaltungen ins Wasser fielen und Restaurants geschlossen blieben. Arme Haushalte konnten sich das alles vorher schon nicht leisten – und deshalb auch kaum sparen. Manche mussten sich verschulden.

Das sei zu erwarten gewesen, weil die Krise besonders die Tieflohnbranchen getroffen habe, sagt Studienmitautor Daniel Kopp. Die wachsende Ungleichheit sei ein Problem. «Es besteht die Gefahr, dass Menschen abgehängt werden und ihre Fähigkeiten nicht entfalten können. Zum Beispiel wenn sich ärmere Kinder keinen Nachhilfeunterricht leisten können und in der Schule zurückbleiben.» Immer mehr Ökonominnen und Ökonomen sagen deshalb, dass das heutige Ungleichheitsniveau langfristig auch das Wirtschaftswachstum hemmen werde.

Reiche konnten sparen

Veränderung der Ersparnisse während der Corona-Pandemie, aufgeschlüsselt in Haushaltseinkommen
Quelle: ETH/KOF: «Corona und Ungleichheit in der Schweiz» [Januar 2021] – Infografik: Andrea Klaiber
So veränderten sich Einnahmen und Ausgaben der Haushalte durch die Pandemie, nach Haushaltseinkommen
Quelle: ETH/KOF: «Corona und Ungleichheit in der Schweiz» [Januar 2021] – Infografik: Andrea Klaiber

Neu in dieser Krise ist, dass bei den Hilfswerken viele Menschen anklopfen, mit denen sie bisher kaum zu tun hatten: Selbständige, denen die Aufträge weggebrochen sind, Studierende, die ihren Nebenjob verloren haben. Für manche ist es besser, sich zunächst ohne jede staatliche Hilfe über Wasser zu halten. So erhalten Selbständige in der Regel nur während maximal sechs Monaten Sozialhilfe. Wenn sie länger Unterstützung brauchen, müssen sie ihr Geschäft aufgeben und alle Betriebsmittel auflösen. Für Taxifahrer kann das heissen: Auto verkaufen. Wer noch etwas Hoffnung hat, tut das nicht.

Andere wissen nicht, wie und welche Unterstützung sie vom Staat bekommen könnten. Sie sind mit der ganzen Situation heillos überfordert. So erging es Maria Cattaneo. Die 80-Jährige hatte bisher nie Geldprobleme. Um die Finanzen hatte sich stets ihr Mann Claudio gekümmert. Sie lebten bescheiden. Der Polier hatte auch nach seiner Pensionierung immer wieder Gelegenheitsjobs angenommen. So kamen sie über die Runden. Das änderte sich im März 2021 schlagartig.

«Ich habe jeden Tag Angst, dass im Briefkasten neue Rechnungen liegen.»

Maria Cattaneo, Rentnerin aus Küsnacht ZH

Maria Cattaneo, Rentnerin. 

Quelle: Herbert Zimmermann

Maria Cattaneo sitzt in ihrem Wohnzimmer und nickt Richtung Wohnwand: «Sehen Sie, dort ist er nun. In der grossen Urne. Und daneben in der kleinen ist Giulietta, unser Kätzchen.» Maria Cattaneo vermisst beide, jeden Tag und jede Stunde.

Ihr Mann Claudio musste wegen einer Hüftoperation ins Spital. Dort steckte er sich mit Corona an. «Am Morgen haben wir noch telefoniert, am Abend sah ich ihn zum letzten Mal atmen.» Er sei ein kräftiger Mann gewesen, ihr Claudio, zupackend und hilfsbereit. «Er hatte grosse Hände und ein grosses Herz.» Dann hat das Virus ihn aus dem Leben gerissen.

Kurz darauf wurde auch das zwölfjährige Büsi krank. Im Tierspital habe man alles versucht, doch am Ende musste die Katze eingeschläfert werden. «Giulietta und mein Mann waren Seelenverwandte. Ich denke, sie ist ihm aus Kummer gefolgt.»

Unterdessen stapelten sich die Rechnungen, die Maria Cattaneo mit ihren rund 1800 Franken Rente nicht bezahlen konnte. Allein der Tierarzt kostete mehrere Tausend Franken.

Verzweifelt wandte sie sich an ihre Kirchgemeinde. Dort beriet man sie, unterstützte sie finanziell und machte sie auf SOS Beobachter aufmerksam. Die Stiftung übernahm einen Teil der Tierarztkosten und stellte sicher, dass sie Ergänzungsleistungen beantragte. Ein Familienfreund und der Sozialberater der Kirchgemeinde unterstützen sie. Doch noch kann Maria Cattaneo nicht aufatmen. Sie macht minus, Monat für Monat. «Ich habe jeden Tag Angst, dass im Briefkasten neue Rechnungen liegen. Das Geld reicht noch bis Ende Jahr.»

Corona hat ihr die Liebsten genommen und sie in die Armut getrieben – wie so viele andere.

«Schon vor der Pandemie ­lebten Hunderttausende an oder unter der Armutsgrenze. Jetzt sind es mit Sicherheit noch viel mehr.»

Markus Mader, Direktor Schweizerisches Rotes Kreuz

Die Hilfswerke konnten die Not vieler Menschen lindern. Letztlich aber sei Armutsbekämpfung eine staatliche Aufgabe, sagt Markus Mader, Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK). «Der Bund hat mit den Wirtschaftshilfen gut und schnell reagiert. Die Pandemievorsorge hat man aber nicht nur medizinisch, sondern auch sozial verpasst.»

Der Spardruck bei den Sozialwerken und die damit verbundenen Leistungskürzungen hätten viele in Existenznot gebracht. Das sei doppelt gefährlich: «Finanzielle Sorgen und Zukunftsängste können zu psychischen Problemen führen und Betroffene erst recht daran hindern, wieder Fuss zu fassen. Das kostet die Gesellschaft am Ende viel mehr.»

Hilfswerke betrachten die aktuelle Situation deshalb mit Sorge. «Viele gehen stark angeschlagen aus der Krise hervor, die nächste werden sie nicht so leicht verkraften», sagt Stefan Gribi von Caritas. «Schon vor der Pandemie lebten Hunderttausende an oder unter der Armutsgrenze. Jetzt sind es mit Sicherheit noch viel mehr», bestätigt Markus Mader vom SRK.

Knappes Budget

Das hat mit einem weiteren Problem zu tun, das gern unterschätzt wird: dass viele Leute bewusst auf Sozialhilfe verzichten, obwohl sie Anrecht darauf hätten. Karin Bortoletto von der Winterhilfe Schweiz sagt: «Viele haben zuerst alle Reserven aufgebraucht oder sich sogar verschuldet, um ja keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.» Manche seien auch von den Sozialämtern abgewimmelt worden. «Sie wurden zu uns geschickt, weil sie sich zuerst privat Hilfe suchen müssten.» Dabei sei das Gegenteil der Fall: «Wir als Hilfswerk leisten ergänzende Unterstützung, nicht umgekehrt.» Nicht wenige seien vom Hinweis abgeschreckt worden, dass man Sozialhilfe hinterher zurückzahlen müsse.

Auch die 34-jährige alleinerziehende Mutter Nihal Kemik hat lange überlegt, ob sie sich bei der Sozialhilfe melden sollte. Sie schämte sich. «Die ersten paar Male hätte ich mich am liebsten unter einem Schal versteckt auf dem Weg zum Sozialamt», erzählt sie. Aber dann habe sie sich gesagt: «Ich bin ja nicht eine, die nichts macht. Ich habe immer gearbeitet, seit ich 16 war. Jetzt darf ich das auch in Anspruch nehmen.»

Die Mutter von zwei Töchtern im Schulalter arbeitete im Service, verlor wegen Corona aber vor einem Jahr ihre 50-Prozent-Stelle. Das Arbeitslosengeld reicht nicht, um alle Kosten zu decken. Der Vater ihrer Kinder ist selbständig und leidet ebenfalls unter der Krise. Er kann nicht genug Alimente zahlen, sie ist deshalb auf die Unterstützung der Gemeinde angewiesen. «Man muss Hilfe auch annehmen können», findet Nihal Kemik. «Wir haben auch vorher nie verschwenderisch gelebt, aber jetzt kann ich noch besser mit Geld umgehen.»

Ihr Budget ist knapp bemessen. Für die Campingferien im Sommer wollte es einfach nicht reichen. Die Sozialhilfe bezahlt dies nicht. Dank SOS Beobachter hat es aber doch noch geklappt. Die Familie verbrachte einige entspannte Tage am Rhein. Tochter Anissa erinnert sich besonders an den 1. August. «Wir haben einen Vulkan angezündet und so Feuerschlangen, die übers Wasser hüpften», sagt sie und fuchtelt lachend mit den Händen in der Luft.

Aus der Armutsfalle

Nihal Kemik hat die Zeit ohne Job genutzt und einen Allgemeinbildungskurs für Erwachsene abgeschlossen. Der Kurs soll ihr den Weg zu einer Ausbildung in der Pflege ebnen, ihrem Traumberuf. Auch wenn es sie Überwindung kostete, aufs Sozialamt zu gehen – letztlich habe sich dieser Schritt dennoch gelohnt.

Es gibt keine aktuellen Zahlen, wie viele Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diese aber nicht beantragen. Eine Studie im Kanton Bern, die auf der Auswertung von Steuerdaten beruht, kam vor einigen Jahren auf eine Quote von fast 37 Prozent. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) geht davon aus, dass es wegen Corona inzwischen noch mehr sind.

Die Situation könnte zum Bumerang werden, zu einem «wirtschaftlichen Long Covid», sagt Skos-Geschäftsleiter Markus Kaufmann. «Wenn jemand erst zur Sozialhilfe kommt, nachdem er bereits verschuldet ist, kommt er unter Umständen länger nicht mehr heraus.»

Abschreckende Regelung

Wer Sozialhilfe bezieht, muss seine Schulden zunächst nicht zurückzahlen. Damit entsteht eine hohe Schwelle für den Wiedereinstieg in einen Job. Denn wer ein Einkommen hat und damit zuerst die Schulden abstottern muss, hat je nachdem noch weniger Geld zum Leben. Ein Risiko, denn es gilt die Regel: Je länger man nicht mehr im Arbeitsmarkt ist, desto schwieriger wird es, wieder reinzukommen.

Statt Menschen abzuschrecken, sei es viel besser, sie zu ermutigen, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen, sagt deshalb Markus Kaufmann. «Die Skos-Richtlinien halten seit langem fest, dass Sozialhilfe nur dann rückerstattet werden soll, wenn jemand zu Vermögen gekommen ist, etwa durch einen Lottogewinn oder eine Erbschaft. Es halten sich aber nur die Hälfte der Kantone daran.»

Abschreckend wirkt laut Kaufmann eine spezielle Regelung im Ausländer- und Integrationsgesetz. Sie besagt, dass die Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft oder sogar entzogen werden kann, wenn jemand Sozialhilfe bezieht. Wer keinen Schweizer Pass hat, riskiert, ausreisen zu müssen – auch wenn man jahrzehntelang hier gelebt, gearbeitet und Steuern bezahlt hat. Die Hilfswerke berichten unisono, dass es immer mehr solche Fälle gebe, seit diese Regelung 2019 auch für Personen mit C-Bewilligung eingeführt wurde. Corona habe die Situation verschärft, denn viele Ausländerinnen und Ausländer arbeiten in Tieflohnbranchen.

Skos-Geschäftsleiter Kaufmann fordert deshalb: «Die Verschärfung des Ausländerrechts muss rückgängig gemacht werden.» Auf längere Sicht sei sie kontraproduktiv und habe mitunter tragische Folgen. «Bisher gab es in der Schweiz keine offene Armut. Wenn eine so grosse Gruppe auf Unterstützung verzichtet, könnte sich das ändern.» Man könne es nicht den Hilfswerken allein überlassen, all diese Menschen aufzufangen.

«Das Sozialhilferecht wird für Migrationspolitik missbraucht»

Einer, der das erkannt hat, ist der Stadtzürcher Sozialvorsteher Raphael Golta. Der SP-Stadtrat sagt: «Der Staat muss Armut bekämpfen und darf sie nicht noch vergrössern.» Golta hat in Zürich deshalb das Projekt «Wirtschaftliche Basishilfe» angerissen: Zwei Millionen Franken Steuergelder werden über vier Hilfswerke an Sans-Papiers und Personen verteilt, die aus Angst vor dem Verlust der Aufenthaltsbewilligung keine Sozialhilfe beantragen. Voraussetzung ist, dass sie seit mindestens zwei Jahren in der Stadt Zürich und seit fünf Jahren in der Schweiz leben. Die Höhe der Basishilfe orientiert sich an der Asylfürsorge, die Ansätze sind also tiefer als bei der Sozialhilfe.

Für seine Aktion hat Golta eine Aufsichtsbeschwerde kassiert. Die städtische FDP wirft ihm vor, er verletze übergeordnetes Recht. «Wir haben in unserer Stadt Menschen, die für Essenspakete anstehen. Da kann und will ich nicht einfach zuschauen, wir müssen handeln», sagt Golta. Neben dem Ausländergesetz gebe es ja immer noch die Verfassung. Darin stehe: Wer in einer Notlage ist, hat das Recht auf Hilfe. «Ausserdem sind auch zahlreiche Kinder betroffen. Wir müssen sie schützen, das schreibt die Kinderrechtskonvention vor.»

Inzwischen gibt es ein ähnliches Angebot in Luzern. Dies zeige, dass es offensichtlich ein Problem gebe, sagt Raphael Golta. «Das Sozialhilferecht wird für Migrationspolitik missbraucht.»

Hilfsorganisationen wie SOS Beobachter können in solchen Fällen wenig ausrichten. «Wir können nicht mit Spendengeldern den Staat ersetzen. Wenn jemand Anspruch auf Sozialhilfe hat, sollte er diesen geltend machen», sagt Geschäftsleiter Beat Handschin. Er rechnet damit, dass deutlich mehr Gesuche eingehen werden, wenn die Staatshilfen auslaufen und sich viele dann zu spät bei der Sozialhilfe melden.

Die Skos erwartet, dass 2023 im Vergleich zu 2019 zusätzliche 37'000 Menschen Sozialhilfe beziehen werden. Das entspricht einem Anstieg von 14 Prozent und 535 Millionen Franken Mehrausgaben. Immerhin: Anfang Jahr sah es noch düsterer aus. Damals rechnete die Skos noch mit einem Anstieg von 21 Prozent. «Es konnten sich trotz Corona-Krise mehr Menschen von der Sozialhilfe lösen, als wir vermuteten. Im Bereich Logistik gab es viele neue Jobs», sagt Markus Kaufmann.

Auch die Milazzos, das Ehepaar mit dem Brocki-Laden, erhielt im Oktober endlich wieder einmal eine gute Nachricht. Es sieht so aus, als könnten sie per Ende November aus dem Mietvertrag zurücktreten. Das würde ihr schmales Budget wenigstens etwas entlasten.

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