Diese Bilder schockierten: Plötzlich standen Tausende Menschen während der Coronakrise stundenlang an, um gratis Essen zu holen. Öl, Reis, Nudeln. Das Nötigste. In Genf vor dem Eishockeystadion, in Zürich an der Langstrasse. Die Lage hat sich mit den Lockerungen der Corona-Massnahmen nicht entspannt: Die Organisation «Caravane de Solidarité», die in Genf Essenspakete verteilt, hat auch in der letzten Juniwoche noch 10'000 Menschen mit Nahrungsmittelhilfe unterstützt. Die Hilfsgesuche in den Sozialberatungen der Caritas sind dreimal so hoch wie in anderen Jahren. «Eine Entspannung nach dem Ende des Lockdowns können wir für Menschen in finanziellen Notlagen nicht feststellen», sagt Caritas-Mediensprecher Stefan Gribi.

Anstehen für eine Gratis-Mahlzeit in der reichen Schweiz? Das ist schwierig mit unserem Selbstbild zu vereinbaren. 

Es sind nicht nur Schweizer Randständige und Sans-Papiers «Essen für alle» Wie ein Sans-Papiers in Zürich den Armen hilft , die dort anstehen. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte Bea Schwager von der Zürcher Anlaufstelle für Sans-Papiers: «Die Leute in der Langstrasse sind keine Papierlosen. Die hätten zu grosse Angst, von der Polizei kontrolliert zu werden.» Viele der von Armut in die Essens-Schlangen gedrängten Menschen sind nämlich Ausländerinnen und Ausländer, die völlig legal im Land sind. Eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzen. Sie fürchten sich aber davor, staatliche Hilfe zu beanspruchen, auf die sie eigentlich ein Recht hätten. 

Wieso diese Angst? Die Sozialämter sind verpflichtet, den kantonalen Migrationsämtern zu melden, wenn jemand Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen bezieht. Und je nach individueller Situation können die Behörden Ausländerinnen und Ausländern ihre Aufenthaltspapiere entziehen oder die Bewilligung nicht mehr verlängern. 
 

Lieber unter dem Existenzminimum

Das ist grundsätzlich nicht neu. Mit der Revision des Ausländergesetzes hat sich die Situation für Personen mit einer unbefristeten Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) aber verschärft: galt der C-Ausweis früher als Quasi-Schweizer-Pass einfach ohne politische Mitsprache, kann seit 2019 aber auch eine Person mit einem C-Ausweis auf einen B-Ausweis (Aufenthaltsbewilligung, befristet) zurückgestuft werden. Rein theoretisch ist also ein Viertel der in der Schweiz ansässigen Bevölkerung betroffen. 

«Das ist eine gefährliche Entwicklung und schafft eine Zweiklassengesellschaft», sagt SP-Nationalrätin Samira Marti. Menschen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben, hätten deshalb keine Sicherheit mehr. Und schon länger seien Ausländer verunsichert wegen der Praxis der Migrationsämter und hätten oft ein angeschlagenes Vertrauen in den Staat. «In der aktuellen Krise will niemand neben dem Jobverlust auch noch einen Landesverweis Staatsbürgerschaft Unerwünscht am Kap der Guten Hoffnung riskieren», sagt die Politikerin. Lieber leben sie unter dem Existenzminimum. 

Auch Stefan Gribi von der Caritas ist besorgt: «Es darf nicht sein, dass Menschen ihr Grundrecht auf Hilfe in Not nicht beanspruchen, weil sie eine Wegweisung befürchten müssen.»

Die Behörden versuchen zu beruhigen: Bundesrätin Karin Keller-Sutter wies die Kantone mit einer Direktive an, kulant zu sein bei Ausländern, deren Sozialhilfebezug Existenzsicherung Sozialhilfe von A bis Z mit der Corona-Pandemie zusammenhänge. Man solle Corona-bedingten Härtefällen Rechnung tragen. Und Marcel Suter, Präsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden, sagte in der Tagesschau: «Diese Angst ist nicht berechtigt. Wenn der Bezug der Sozialhilfe lediglich wegen der Coronakrise geschieht, ist er nicht selbstverschuldet und deshalb nicht vorwerfbar.» 
 

Kulanz und grosszügige Fristen

Gegenüber dem Beobachter erklärt Suter zudem, die Kantone hätten einen gewissen Handlungsspielraum und sollten jetzt grosszügig sein. «Bezüge müssen immer dauerhaft, erheblich und vorwerfbar sein, erst dann wird genauer hingeschaut. Viele haben das Gefühl, dass sie wegen 2 bis 6 Monaten schon in der Maschinerie sind, aber das stimmt nicht.» Wenn jemand aber vorher schon über einen längeren Zeitraum Sozialhilfebeiträge bezogen habe, stelle sich die Frage, ob die aktuelle Krise wirklich schuld an den Schwierigkeiten der Person sei. Dann könne es auch trotz Corona zu Sanktionen kommen. Auch in solchen Situationen könne man kulant sein. Zum Beispiel bei der Ausreisefrist: «Es kann ja sein, dass die Person jetzt erst recht nicht ins Heimatland reisen kann, oder nur mit sehr grossen Risiken. Dann können im Einzelfall grosszügige Fristen gesetzt werden», sagt Marcel Suter. 

Eine Zusicherung, wegen Staatshilfe in der aktuellen prekären Situation nicht aus dem Land geschmissen zu werden, gibt es für Migranten Schweizer Pass Erleichterte Einbürgerung – doch nicht so leicht aber nicht. Nichts Schriftliches, keine Garantien.

Dazu kommt, dass sich die Umsetzung in jedem Kanton unterscheidet. Die Migrationsämter können das unterschiedlich auslegen, erklärt Beobachter-Expertin Nora Frei. Auch die Praxis des Bundesgerichts bei der Beurteilung, wann ein Sozialhilfebezug erheblich und dauerhaft ist, sei nicht ganz einheitlich.

Dass Ausländerinnen den Behörden deshalb trotz drohender Armut aus dem Weg gehen, überrascht Marc Spescha nicht. Er ist Anwalt in Zürich und Lehrbeauftragter für Schweizer Migrationsrecht an der Universität Fribourg. Er ging schon in einem 2016 verfassten Aufsatz mit den Migrationsämtern hart ins Gericht: Es grassiere ein Geist der Abwehr, eine Praxis der Härte. Anfragen würden häufig abweisend statt aufklärend beantwortet. Statt von unterstützenden Hinweisen würden ihm Klienten von mehr oder weniger versteckten Drohungen berichten. «Augenscheinlich regiert unter rechtsuchenden Migrantinnen die Angst», schrieb Spescha. Obwohl spezialisierte Migrationsanwältinnen und -anwälte praktisch alle ihnen zugetragenen Fälle anfechten, seien Rekurse oder Beschwerden in insgesamt deutlich mehr als 50 Prozent erfolgreich. Dies stelle die Qualität der Verwaltungspraxis massiv in Frage. 

«Es ist beschämend»

Die Ämter zeigten auch in jüngster Vergangenheit und selbst während der Pandemie gegenüber armutsbetroffenen Migrantinnen und Migranten kaum Nachsicht, sagt Spescha. Während Jahrzehnten sei der Boden für die gesellschaftliche Angst vor einer «Zuwanderung in die Sozialhilfe» und vor «Sozialschmarotzern» bereitet worden und hätte auch die Haltung der kantonalen Migrationsämter entsprechend geprägt. Deren Gangart habe sich in den letzten Jahren gar noch verschärft. Sozialhilfeempfänger seien zu einer Kategorie migrationsrechtlich «Verfolgter» geworden. Davon betroffen seien sogar ausländische Mütter von Schweizer Kindern. «Es ist beschämend, wie diesen mehrfach belasteten Menschen fehlende Integrationsbereitschaft unterstellt wird. Ohne jede Empathie, mit unerträglichem Tonfall und im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichts behandeln Migrationsbehörden sie als unerwünschte Personen und stellen sie auf die Stufe von Kriminellen», sagt Spescha. Einseitig werde das behauptete öffentliche Interesse an der Vermeidung von Sozialhilfekosten ins Zentrum gestellt, statt eine differenzierte und faire Interessenabwägung vorzunehmen.

Nationalrätin Samira Marti will die Situation für Menschen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben, arbeiten und Steuern zahlen oder hier geboren sind, verbessern. Deshalb hat sie im Juni eine parlamentarische Initiative eingereicht und will das Ausländer- und Integrationsgesetz ändern. Nach zehn Jahren in der Schweiz solle eine Wegweisung ausschliesslich aus dem Grund des Sozialhilfebezugs nicht mehr möglich sein, es sei denn, die Person habe die Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt oder mutwillig so belassen. In der Begründung schreibt sie: «Die Drohung mit der Wegweisung wegen Sozialhilfebezug drängt Menschen dazu, auf nötige Unterstützung zu verzichten. Gerade die Coronakrise hat diese Problematik nochmals verschärft.» 

Die 10 Jahre sind nicht zufällig gewählt: Gemäss einem Bundesgerichtsentscheid ist ein Mensch nach einem Jahrzehnt in der Schweiz hier zuhause. «Es ist also aus Menschenrechtssicht nicht haltbar, jemanden nach 10 Jahren wegzuweisen, nur weil er Sozialhilfe bezogen hat», sagt Marti. Für ihren Vorstoss hat sie eine breite Unterstützung von Parlamentariern aus SP, Grünen, GLP, CVP bis hin zur FDP. 

Zielkonflikt zwischen Sozial- und Migrationsamt

Ein Problem sieht Marti besonders darin, dass das Sozialamt und das Migrationsamt unterschiedliche Ansprüche vertreten: «Es gibt Personen, die einer Arbeit nachgehen, aber trotzdem unter der Armutsgrenze leben. Sogenannte Working Poor , zum Beispiel Alleinerziehende. Das Sozialamt kommt in dem Fall vielleicht zum Schluss, dass es für die familiäre Situation und die Integration im Einzelfall passend ist, 50 Prozent zu arbeiten und den Rest mit Sozialhilfe abzudecken. Das Migrationsamt interessiert sich aber nur dafür, dass Leistungen bezogen wurden.» 

Einen solchen Zielkonflikt zwischen den Ämtern stellt auch FDP-Nationalrat Christoph Eymann fest. Er ist Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) und sagt: «Wir sehen das beim Thema Bildung. Eine Lehre ist heute meist Grundlage für eine langfristige finanzielle Unabhängigkeit.» Während der Lehre brauche es aber eine materielle Unterstützung, wenn der Lehrlingslohn nicht reiche. «Wenn diese Unterstützung dazu führt, dass der Betroffene am Schluss seine Aufenthaltsbewilligung verliert, haben wir einen offensichtlichen Widerspruch.»

Eymann hat die parlamentarische Initiative von Samira Marti ebenfalls unterzeichnet. Die heutigen Regelungen würden dazu führen, dass Personen die während vielen Jahren hier berufstätig waren, auf Sozialhilfe verzichten. Aus Angst vor einer Wegweisung. «Gerade in einer Krise wie der jetzigen, zeigt sich, dass dies schnell zu grossen Problemen führen kann, bis zu Hunger und Obdachlosigkeit.»
 
Als nächstes muss die zuständige Nationalratskommission entscheiden, ob sie der Initiative Folge gibt. Anwalt Marc Spescha begrüsst den Vorschlag und sagt, er sei sachlich gut begründet und würde zu einer Praxis mit Augenmass führen. «Richtigerweise müssten dann die Migrationsbehörden nachweisen, dass der Sozialhilfebezug mutwillig ist, das heisst wirklich selbstverschuldet.»

Marcel Suter, Präsident der kantonalen Migrationsbehörden, ist anderer Meinung. Das Recht biete heute genug Differenzierungsmöglichkeiten, auch für Härtefälle. Er kenne keinen Kanton, der mit unmenschlicher Härte vorgehe.

Ausländerrecht und Sozialhilfe

Das Ausländerrecht ist komplex. Ob die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden kann, kommt auch darauf an, ob man aus einem EU/EFTA-Staat oder aus einem Drittstaat kommt. Grundsätzlich spielt es eine Rolle, ob man die Bedürftigkeit selbst verschuldet hat. Nicht in jedem Fall führt Sozialhilfebezug zum Verlust des Aufenthaltsstatus, beim C-Ausweis ist die Hürde höher als beim B-Ausweis. Der Bezug muss dann dauerhaft und erheblich sein. 
 

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