«Du, Braungebrannte, tu mir den Gefallen: Bleib weiter so und schenk dem, der dich liebt, noch viele kulinarisch frohe Stunden.»


Mit der Inbrunst, die Dichter Fridolin Tschudi (1912–1966) in die «Liebeserklärung an eine St. Gallerin» gelegt hat, kann es Urs Bolliger nicht aufnehmen. Aber fast. Wenn er in Feuer gerät, beugt er sich leicht vor, und es blitzt in seinen Augen. Er erzählt, was eine «Problemwurst» mit ihm anrichtet, ganz zu schweigen von einem «Wassersack»: «Dann bekomme ich richtig schlechte Laune.» Für gewöhnlich ist Bolliger gut gelaunt – solange er seine Gefilde nicht verlassen muss.

An dieser Stelle sind Erklärungen nötig:

  • 1. Urs Bolliger
    Der Landwirt und Agronom ist Geschäftsführer der Sortenorganisation St. Galler Bratwurst. Als solcher bewahrt er das kulinarische Erbe der Königin der Schweizer Würste. Etwas weniger hochtrabend: Er schaut, dass Zutaten und Herstellung dem Pflichtenheft im Bundesregister entsprechen, das eine originalgetreue St. Galler Kalbsbratwurst amtlich definiert.
     
  • 2. Gefilde
    Das sind die Kantone St. Gallen, Thurgau und beide Appenzell. Hier müssen die Bratwürste aus Schweizer Fleisch erzeugt und veredelt werden, um die geschützte Herkunftsbezeichnung IPG (indication géographique protégée) tragen zu dürfen.
     
  • 3. Problemwürste/Wassersäcke
    Steht im Jargon für Erzeugnisse von mangelhafter Qualität und fragwürdigem Geschmack.


In der Essenz geht es darum: Ersteren gibt es, um Letzteres aus dem Mittleren fernzuhalten. Und falls sich in den Gefilden dennoch eine Problemwurst breitmacht, sei er dafür zuständig, «das Übel zu beseitigen», sagt Urs Bolliger.

Der 48-Jährige bezeichnet sich selbst als «Gralshüter der St. Galler Bratwurst». Seine Mission ist es nicht, die beste aller guten Würste aus der Region aufzuspüren. Vielmehr beschäftigt er sich – wie manchmal auch der lokale Fussballklub – mit dem Abstiegskampf. Ein Mindestmass an Qualität muss erbracht werden, sonst droht der Verlust des Gütesiegels. Zweimal im Jahr schwärmt der Gralshüter mit seinen Gefolgsleuten aus, um Stichproben zu nehmen. Kommt eine Wurst bei der Degustation in die Nähe der Problemzone, gibt es Besuch von Bolliger. Dann muss der Metzger darlegen, wie er sein Produkt geschmacklich wieder auf Vordermann bringen will.

Momentan spielen 38 Ostschweizer Metzgereien in der höchsten Liga und gelten als Produzenten der echten St. Galler Kalbsbratwurst. Es ist eine fleissige Gilde: Pro Jahr werden um die 4000 Tonnen hergestellt, das ergibt rund 30 Millionen Würste.

Kaum kreativer Spielraum

Metzger Silvan Fürer steuert jeden Morgen seinen Teil dazu bei. Mit dem Wursten fängt der Tag an im Familienbetrieb in Flawil SG. Ab halb sechs wird das Fleisch von regionaler Herkunft ausgebeinelt und von den Sehnen befreit. Mindestens die Hälfte des verwendeten Muskelfleischs muss vom Kalb sein, das schreiben die Richtlinien vor. Dazu kommen Schweinefleisch und Speck, ebenso die weiteren Zutaten, die für das Original obligatorisch sind: Milch oder Milchpulver sowie Kochsalz, weisser Pfeffer und Mazis, die geriebene Samenhaut der Muskatnuss. Weitere Zutaten können nach Gutdünken beigefügt werden; Fürer etwa verwendet Zwiebeln.

Der kreative Spielraum für den Metzger ist klein. «Den Unterschied zwischen irgendeiner Wurst und einer richtig guten Wurst machen die handwerklichen Nuancen aus», sagt Silvan Fürer. Matchentscheidend sei der erste Produktionsschritt, die Herstellung des Bräts.

Man könnte alles aufs Mal in den Cutter kippen, den sogenannten Blitz, und von den Messern der dröhnenden Maschine zerkleinern lassen – das ergäbe dann irgendeine Wurst. Fürers Betrieb hingegen macht die richtig guten Würste, und darum geht hier alles Schritt für Schritt. Zuerst eine gute Ladung Fleisch, das zusammen mit der Schüttung – eine Eis-Wasser-Mischung – auf drei bis null Grad gekühlt wird. Das ist wichtig, damit das Eiweiss nicht gerinnt und die Masse gut bindet. Nach und nach werden von Hand die weiteren Zutaten beigegeben, zuerst Milchpulver und Salz, später Speck und Gewürze. Nun muss die Temperatur höher sein, damit eine gute Konsistenz erreicht wird. «Ein guter Wurster braucht viel Fingerspitzengefühl», sagt der 36-jährige Chef des Hauses. 

Nach einer knappen Viertelstunde wird das Brät in einen Trichter gefüllt, aus dem es dann portioniert in Schweinedärme gestossen wird. Die weissen Würste kommen ins Wasserbad, wo sie bei 72 Grad während etwa einer halben Stunde gebrüht werden. Danach schnell abkühlen, mit Eis und kaltem Wasser, und ab in den Kühlraum: Der Nachschub aus dem Bratwurstland ist parat.

Kulturhistorisches Erbe

Die originale St. Galler Kalbsbratwurst, ohne die in diesem Land kein Grillfest und kein Grümpelturnier auskommt, trägt die geschützte Herkunftsbezeichnung seit 2008. Andere Vertreter des kulinarischen Erbes, die das Wurstland Schweiz prägen, sind etwa die Glarner Kalberwurst oder die Saucisse d’Ajoie aus dem Jura. Um in dieses appetitanregende Verzeichnis zu kommen, muss ein Produkt neben einer identifizierbaren Ursprungsregion auch eine kulturhistorische Tradition vorweisen.

Damit hatte die bekannteste St. Gallerin keine Schwierigkeiten, denn die Bratwurst ist seit dem Mittelalter bekannt. In den Statuten der Metzgerzunft St. Gallen wurde 1438 erstmals die Zugabe des heute typischen Kalbfleischs urkundlich festgehalten – damals eine kleine Revolution, wurde doch für Würste bis dahin ausschliesslich Schweinefleisch verwendet. Zum Glück ist davon ein ordentlicher Anteil dringeblieben. «Schwein gibt den Biss», sagt der oberste Sortenschützer Urs Bolliger. 

Wer denkt, das sei eine Nebensache, muss von ausserhalb kommen. Dieses Knacken beim Reinbeissen! Nur leicht, aber hörbar. Die richtige Konsistenz! Weich und zugleich straff. «Wir St. Galler sind Biss-Fetischisten», stellt Bolliger klar.

Mehr als Sattwerden

Solche träfen Sprüche müssen sein. Denn letztlich macht Bolliger Marketing für ein Qualitätsprodukt. Und Qualität hat ihren Preis. «Als früherer Landwirt weiss ich, dass wir Rohprodukte herstellen, die nicht die günstigsten sind», sagt er. «Um trotzdem ein Publikum dafür zu finden, braucht es gute Geschichten.» 

Der Fokus auf regionale Spezialitäten ist für ihn Lust und Notwendigkeit zugleich: «Mit dem Konsum entscheiden wir, wie unsere Kulturlandschaften aussehen.» Das Streben nach dem Billigsten führe in die Sackgasse – in mehrfacher Hinsicht und ganz speziell in Bezug auf Ernährung und Genuss. «Essen ist schliesslich mehr, als bloss den Magen zu füllen.»

Es fragt sich nur, womit. Vegetarier und Veganer, die ihre Bedenken so laut und belehrend in die Welt tragen, dass man beinahe vergisst, dass sie immer noch eine Minderheit sind, belagern auch die Trutzburg der Bratwurst in der Ostschweiz. Urs Bolliger nimmt die Zeiterscheinung grundsätzlich gelassen hin. Aber mit allem müssen sie dem Fleischesser von Berufes wegen dann doch nicht kommen. Als 2017 der Marktauftritt einer St. Galler Bratwurst auf Tofu-Basis angekündigt wurde, schlug Bolliger in den lokalen Medien Alarm. Schabernack mit einem Kulturgut werde da betrieben, tadelte er. «Da hört bei mir der Spass auf!» Wenn als Herkunftsbezeichnung «St. Galler Bratwurst» draufstehe, dann müsse genau das auch drin sein.

Das wäre somit geklärt. Es bleibt die Frage, die man in der Heimat der wahren Wurst besser nur halblaut stellt: mit oder ohne Senf? «Sie können es schon zugeben, Herr Bolliger, wir sind ja unter uns: Haben Sie auch schon mal mit …?» – «Nie! So etwas tut ein St. Galler nicht! Wenn ich eine gute Wurst esse, will ich alle ihre geschmacklichen Nuancen erspüren. Senf würde sie alle überdecken.»

Das letzte Wort gehört wieder dem Dichter Fridolin Tschudi. Aber es könnte auch die Parole von Gralshüter Urs Bolliger sein:

«O heissgegrillte Bratwurst aus St. Gallen, du wirst, solang es dich unverfälscht gibt, mir bis ans Ende meines Lebens munden.»

Die beliebtesten Würste der Schweiz

Infografik: Bratwürste und Cervelats sind die beliebtesten Würste der Schweiz

Diese Würste werden in der Schweiz am meisten gegessen. (Angaben in Tonnen Verkaufsgewicht)

Quelle: Proviande [Absatz im Detailhandel ohne Tessin] / Infografik: Anne Seeger
15 traditionelle Wurstspezialitäten mit regionalem Bezug

Als «Kulinarisches Erbe der Schweiz» gelten Würste, die seit über 40 Jahren produziert werden und einen besonderen regionalen Bezug haben. Hier eine Auswahl von Spezialitäten.

 

  • 1: Saucisses d’Ajoie sind geräucherte, mit Kümmel gewürzte Schweinswürste, die im Jura am Martinstag mit Sauerkraut serviert werden.
  • 2: Die Berner Zungenwurst besteht aus zweierlei Brätsorten: grob und fein. Sie enthält Rind und Schwein, aber entgegen ihrem Namen heute keine Zunge mehr.
  • 3: Die Ramswurst ist eine in Solothurn und Umgebung verbreitete, geräucherte Rohwurst. Den Namen verdankt sie dem Kartenspiel «Rams», das in der Altjahrswoche gespielt wird – und bei dem als Gewinn eine Ramswurst winkt.
  • 4: Saucissons und Saucisses sind Rohwürste mit unterbrochener Reifung: Sie könnten also weiter getrocknet oder aber gekocht werden, solange sie weich sind. Variationen der Schweinswurst werden in der Waadt, in Neuenburg, Freiburg und Genf produziert.
  • 5: Die Randenwurst besteht aus Rind- und Schweinefleisch, Wein und Gemüse. Neben den farbgebenden Randen kann die Walliser Spezialität – je nach Rezept – auch Kohl, Lauch, Zwiebeln oder Kartoffeln enthalten.
  • 6: Die Aargauer Sonntagswurst erinnert an Lyoner mit Schinkenstücken. Sie wurde 1965 zum Jubiläum einer Aargauer Metzgerei lanciert und ist heute im ganzen Kanton Aargau verbreitet.
  • 7: Die Hallauer Schinkenwurst ist eine geräucherte Brühwurst. Sie wird seit über 100 Jahren in der Region Schaffhausen meist kalt aufgeschnitten gegessen.
Illustration: Schweizer Wurstspezialitäten
Quelle: Anne Seeger und Andrea Klaiber
  • 8: Die Krakauer Wurst mit sichtbaren Schinkenstücken kam in den 1920er Jahren mit einem österreichischen Metzger nach Dagmersellen LU. Sie besteht aus Brät, Schweinestotzen und Speckwürfeli.
  • 9: Die Urner Hauswurst ist eine Rohwurst (wie Salami), die nicht gepresst wird (im Gegensatz zum Landjäger). Sie besteht nicht nur aus Rind und Schwein, sondern enthält auch Hirsch- oder Ziegenfleisch.
  • 10: Der Augustiner Schüblig wurde in den fünfziger Jahren an der Augustinergasse in Zürich entwickelt. Geschmacklich ähnelt er dem Cervelat, ist aber grösser, gröber und in einen rotgefärbten Darm gekleidet.
  • 11: Die Appenzeller Siedwurst ist eine helle Brühwurst mit Kümmel. Im Gegensatz zur St. Galler Kalbsbratwurst enthält die Siedwurst neben Schwein jedoch Rind und nicht primär Kalb.
  • 12: Luganighe sind grobe Schweinswürste, die man in Wasser sieden, in der Pfanne braten oder auf den Grill legen kann. Aus der Wursthaut gepellt, macht sich die Tessiner Wurst auch gut in Risotto oder Pastasaucen. 
  • 13: Frauenfelder Salzissen gibt es in Hellbraun (geräuchert und gebrüht) oder Grün (roh). Zusammen mit einem Bürli bildet die Wurst am Bechtelistag das Festmahl. 
  • 14: Die Glarner Kalberwurst wird gekocht oder grilliert. Die Brühwurst enthält Brot, das unterscheidet sie von ihrer St. Galler Schwester. Dies führte jahrzehntelang zu Diskussionen über die Notwendigkeit eines würstlichen Reinheitsgebots.
  • 15: Die Bündner Beinwurst wird mit Veltliner gebeizt. Sie enthält zwar keine Knochen, dafür andere, eher unbeliebte Stücke, die bei der Schlachtung eines Schweins anfallen. Sie wird in Gerstensuppe gegart.
Auf den Grill – aber richtig

Sie auf dem Holzkohlegrill zu braten ist die beliebteste Zubereitungsart der St. Galler Kalbsbratwurst. So gelingt sie:

  • Nicht einschneiden. Die Wurst trocknet sonst aus, bevor die Haut knusprig ist. Das gilt für alle weissen, nicht geräucherten Wurstarten.
  • Wenn die Kohle den ersten weissen Ascheflaum ansetzt, ist die Temperatur ideal (120 bis 150 Grad), um die Wurst auf den Rost zu legen. Beidseits jeweils 5 bis 6 Minuten grillieren. Einmal wenden genügt.
  • Die Haut einer richtig gebratenen Kalbsbratwurst darf stellenweise aufplatzen, aber nicht grossflächig aufreissen. Sie soll rundum goldbraun, jedoch nicht verkohlt sein. Das Innere ist dann schön heiss und saftig.
Lesen Sie, was wir beobachten.
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Dani Benz, Ressortleiter
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