Frau Brombach, ein Freund von mir ist überzeugter Vegetarier. Aber wenn ihm sein Vater wie früher einen Schweinsbraten kocht, kann er nicht widerstehen. Was passiert da mit ihm?
Christine Brombach: In seinem Gehirn kommt eine ganze Kaskade von Erinnerungen hoch, nur schon beim Gedanken an den feinen Braten, den er als Kind so gern gegessen hat. Das sind ganz starke und offensichtlich positiv besetzte Gefühle, sonst würde er ja nicht seine heutigen Überzeugungen vorübergehend über Bord werfen.


Sein Vater muss ein besonders guter Koch sein.
Vielleicht, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Es geht um Erinnerungen, die Wohlbefinden auslösen – das können auch Erinnerungen an Büchsenravioli sein. Das hat damit zu tun, dass wir beim Essen immer auch den Kontext wahrnehmen, in dem es stattfindet. An bestimmte Gerichte ist das ganze Drumherum geknüpft, und daran erinnert man sich auch Jahrzehnte später noch. Das können etwa Personen oder Rituale sein: Es gab diesen Braten doch immer, wenn die Grosseltern zu Besuch waren, die wir so lieb hatten. Das sind sehr individuelle Eindrücke. 


Was läuft bei diesen Reflexen im Gehirn ab?
Frühere Geschmackserlebnisse graben sich im limbischen System des Gehirns ein, genauer in der Amygdala. Dort werden die Erinnerungen daran gespeichert. Über den Geschmack oder den Geruch von Speisen können sie jederzeit wieder abgerufen werden – und mit ihnen auch die positiven, behaglichen Emotionen, die in der Vergangenheit damit verbunden waren. 

Zum Porträt «Das Rezept für den Generationenvertrag»

Wenn Mama aufschreibt, wie Grossmama gekocht hat – und der Enkel die Notizen in seinem Bündner Schloss wiederfindet: Hier finden Sie das Porträt über Gian-Battista von Tscharner.

Meine Leibspeise als Kind waren Marroni mit Rotkraut, wie sie meine Mutter nach einem Familienrezept zubereitet hat. Wenn ich das heute irgendwo sonst esse, bleibt der wohlige Wow-Effekt aus. Warum?
Wenn Erinnerungen physiologisch ausgelöst werden, ist es entscheidend, dass das Gericht wirklich ganz genau so gekocht wird, wie es Ihre Mutter und die Generationen davor getan haben. Es geht um den Geschmack, an den man gewöhnt ist, und der ist sehr fein nuanciert. In dieser Hinsicht sind wir gar nicht so experimentierfreudig, wie wir immer meinen. Wir wollen eine gewisse Geschmackskonstanz, weil uns das Sicherheit bietet. 
 

Sie sprechen häufig über Sicherheit, Wohlbefinden, Behaglichkeit. Ist das Essen besonders gut darin, solche Feel-good-Faktoren zu erzeugen?
Auf jeden Fall. Das hat mit den menschlichen Sozialisierungsprozessen zu tun. Essen ist eine gesamtkörperliche Erfahrung, die schon Babys machen: Wenn sie in den Armen der Mutter oder des Vaters liegen und von ihnen mit Brei gefüttert werden, erleben sie Gefühle von Geborgenheit und Zugehörigkeit. Ab diesem Moment lernen sie, das miteinander zu verknüpfen. 
 

Die heutige Ernährung hat sich gegenüber früher grundlegend geändert. Dennoch schafft es das Essen offensichtlich, Verbindungen herzustellen. Weiss man, über wie viele Generationen das trägt?
Was das Essverhalten und die Zubereitung anbelangt, ist tatsächlich vieles anders geworden, Stichwort Convenience-Food. Esstraditionen, die etwa über Rezeptbücher oder besondere Rituale weitergegeben werden, sind deutlich beständiger. Wenn es schon bei Ihren Grosseltern und Ihren Eltern an Weihnachten Rippli mit Dörrbohnen gab, ist die Chance gross, dass Sie das an diesem Tag ebenfalls auftischen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Zeitraum für die Weitergabe von Esstraditionen mindestens drei, wenn nicht vier Generationen umfassen kann.

Zur Person

Die Ernährungswissenschaftlerin Christine Brombach, 60, lehrt und forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften – unter anderem über das Ernährungsverhalten und die sozialwissenschaftlichen Aspekte des Essens.