Es war ein geplanter Überfall: Beim Zürcher Derby zwischen dem Grasshoppers Club und dem FC Zürich Ende Oktober stürmten knapp 100 vermummte FCZ-Anhänger die Leichtathletikbahn, rannten zu den GC-Fans und warfen brennende Pyrofackeln in deren Sektor, 1000 Grad heiss. Danach verschwanden sie unerkannt wieder in der Masse der «Südkurve», des Stehplatzbereichs der FCZ-Fans.

Gewalt von Fans beschäftigt den Schweizer Fussball seit langem. Zu Vorfällen im Stadion kommt es alle paar Jahre, ausserhalb der Stadien sind sie häufiger. Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse wollen die kantonalen Polizeidirektoren und -direktorinnen personalisierte Tickets einführen. Ins Stadion darf dann nur noch, wer ein Ticket hat, das auf den eigenen Namen ausgestellt ist. Die Fussballliga befürchtet allerdings, dass dann viele Fans nicht mehr kommen. Deshalb wurde der Entscheid nun vertagt. Fanforscher Jonas Gabler findet das richtig.


Beobachter: Herr Gabler, Sie kritisieren personalisierte Tickets. Warum?
Jonas Gabler: Ich sehe viel Aufwand für wenig Nutzen. Wie kann man mithilfe eines personalisierten Tickets herausfinden, wer eine Petarde zündet? Oder wer vermummt aufs Spielfeld stürmt? Personalisierte Tickets sind auf eine bestimmte Person ausgestellt. Beim Einlass muss man sich ausweisen. Dadurch kann man keine Straftaten verhindern oder jemanden überführen. Das ginge nur, wenn alle sich auf ihren nummerierten Sitzplatz setzen müssten, der dann videoüberwacht wird.


Ginge das nicht? Auf der Haupttribüne funktioniert es so.
Aber wollen wir das? Das wäre das Ende der Stehkurven. Man könnte sich nicht mehr frei bewegen. Darum ist das in der Schweiz ja auch nicht vorgesehen. Doch ohne Sitzplatzpflicht bringen personalisierte Tickets wenig. Sie machen den Stadionbesuch nur komplizierter für alle. Man kann nicht mehr vier Tickets kaufen und dann schauen, wer von den Freunden mit ans Spiel kommt. Es braucht mehr Kontrollen, mehr Personal, mehr Bürokratie. Der Entscheid riecht darum nach Aktionismus. Die Politik will zeigen: Wir tun etwas. Wir sind handlungsfähig und haben die Situation unter Kontrolle.

«Da fragt man sich schon: Warum konnten das die Sicherheitsleute nicht verhindern? Warum ist es nicht gelungen, auch nur einen einzigen Täter festzunehmen?»

Jonas Gabler, Fanforscher

Wären mehr Sicherheitsleute und mehr Polizei der bessere Ansatz?
Es muss das Ziel sein, Täter zu identifizieren und zu bestrafen, statt allen das Leben schwer zu machen. Wenn Taten Konsequenzen haben, wirkt das abschreckend. Bei den jüngsten Vorfällen am Zürcher Derby sind vermummte FCZ-Anhänger über die Leichtathletikbahn in Richtung GC-Fans gerannt, haben Pyrofackeln in deren Sektor geworfen und sind dann unerkannt wieder zurück in ihre Kurve geflüchtet. Da fragt man sich schon: Warum konnten das die Sicherheitsleute nicht verhindern? Warum ist es nicht gelungen, auch nur einen einzigen Täter festzunehmen? Man muss aber auch sehen: In vielen Fällen ist es fast nicht möglich, Täter zu überführen, etwa bei Pyrowürfen aus dem Fanblock heraus.


Aber man könnte verhindern, dass Pyros ins Stadion gelangen.
Sicher, man könnte noch strenger kontrollieren, mit noch mehr Personal, Bodyscanner einsetzen, das Stadion rund um die Uhr lückenlos überwachen. Aber ist das noch verhältnismässig? Delikte im Stadion zu 100 Prozent verhindern wollen, das ist sehr theoretisch. Das gelang nicht mal in einem autoritären Überwachungsstaat wie der DDR.


Also muss man sporadische Gewalt einfach akzeptieren?
Nein. Ich glaube aber, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem man durch mehr repressive Massnahmen kaum mehr etwas erreichen kann. Oder nur noch ganz wenig mit unverhältnismässig repressiven Massnahmen. Es sind andere Wege gefragt.


Welche?
Zum einen Fan-Sozialarbeit. Sozialarbeit, die sich speziell um die jungen Fans kümmert, sie im Alltag unter stützt, Vertrauen schafft, ihnen Räume zur Verfügung stellt, in denen sie ihr Fansein ausleben können – und so versucht, gewalttätigem Verhalten entgegenzuwirken.


Das tun die meisten Klubs bereits.
Ja. Und es zeigt Wirkung, das bestätigen alle Beteiligten. Man könnte aber noch viel mehr tun in diese Richtung. Provokant gefragt: Warum ist es selbstverständlich, dass an jedem Spiel Hunderte Polizisten und Sicherheitsleute im Einsatz sind, aber nur zwei bis drei Fan-Sozialarbeiter? Sollte Fan-Sozialarbeit nicht den gleichen Stellenwert, die gleichen Mittel haben wie Disziplinierung, Repression, Überwachung?

«Wenn irgendjemand auf diese Leute einwirken kann, dann sind es die anderen Fans.»

Jonas Gabler, Fanforscher

Was ist weiter nötig?
Das Wichtigste ist der Dialog. Ich bin überzeugt, es geht nur auf diesem Weg. Die Fanforschung zeigt klar: Die Fans entfremden sich vom Fussball, weil der Fussball sich von den Menschen entfernt. Der Fussball berücksichtigt die Interessen gerade der jungen Fans oft nicht mehr. Viele haben das Gefühl, sie werden nur noch als Problem wahrgenommen. Alles Kritische und Unbequeme der Fankultur störe, von der Ablehnung des Kommerzes bis zu jeder Art von Feuerwerkstechnik. Das weckt den Widerstandsgeist. Viele Fans in den Kurven denken: Der Fussball will mich nicht mehr, dann mache ich erst recht mein Ding, dann lasse ich mir gar nichts mehr sagen.


Wer ist gefordert?
Die Klubs! Sie müssen versuchen, dieser Entfremdung entgegenzuwirken, die Anliegen der Fans ernst nehmen und die positiven Seiten der Fankultur stärker anerkennen.


Wenn Fans gewalttätig werden, ihnen entgegenkommen? Das klingt absurd.
Es geht nicht darum, diese Gruppen in Watte zu packen, sondern darum, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen zu führen. Die Klubs können nur auf die Fans einwirken, wenn es eine gewisse gegenseitige Akzeptanz gibt. Das ist wie in einer Familie. Eine Beziehung zwischen Fans und Verein besteht so oder so, aber sie kann besser oder schlechter sein.


Ist es denn falsch, wenn sich der Verein von gewalttätigen Fans distanziert?
Es ist kontraproduktiv, wenn Vereinspräsidenten nach Vorkommnissen öffentlich von «Idioten» sprechen oder sagen: «Das sind keine Fans». Damit holen sie sich zwar Applaus in der Öffentlichkeit ab, treiben jedoch einen Keil zwischen den Klub und die Fanszene. Selbst wenn dort längst nicht alle das Verhalten mancher Mitfans gutheissen. In solchen Situationen wäre es zielführender, die Vereinsverantwortlichen würden sich öffentlich zurückhalten und dafür intern den Dialog suchen. Dort sollen sie dann Tacheles reden. Aber auch das wirkt nur, wenn es schon vor der Krise einen Dialog gegeben hat, man miteinander in Kontakt steht, sich gegenseitig zumindest respektiert.

Sie glauben, der Präsident des FC Zürich kann auf die Pyrowerfer vom Derby einwirken?
Nein. Wenn irgendjemand auf diese Leute einwirken kann, dann sind es die anderen Fans aus ihrer Kurve. Denn auch extreme Fans verstehen sich nicht als Einzelgruppe, sondern als Teil des Ganzen. Wenn sie wissen, die anderen Kurvenfans finden nicht gut, was sie machen, kann das hemmend wirken.


Worauf kommt es dabei an?
Wie die Kurve als Ganzes sich gegenüber extremen Aktionen verhält, hängt stark davon ab, wie das Verhältnis zum offiziellen Verein ist. Wenn die Beziehung stimmt, fühlen sie sich dem Verein näher und übernehmen eher Verantwortung gegenüber anderen Fans, die sich nicht an die Regeln halten. Wenn sich Fans jedoch unverstanden oder diffamiert fühlen, solidarisieren sie sich eher mit den Tätern. Dann tolerieren sie solche Aktionen oder unterstützen sie sogar – selbst wenn sie sie grundsätzlich nicht gut finden. Ein guter Dialog zwischen Verein und Kurve stärkt darum die Selbstregulierung unter den Fans.

«Ich glaube nicht, dass der englische Weg in der Schweiz funktionieren würde.»

Jonas Gabler, Fanforscher

In Zürich hat die Selbstregulierung nicht funktioniert. Im Gegenteil: Als die Pyrowerfer am Derby in die FCZ-Kurve zurückflüchteten, wurden sie mit Applaus empfangen.
Das ist ein schlechtes Zeichen. Ich kenne die Szene in Zürich nicht und bin darum vorsichtig. Der Applaus weist aber darauf hin, dass es dem FC Zürich nicht gelungen ist, in der Breite der Fankurve Normen zu etablieren, die das Werfen brennender Pyros in den gegnerischen Fansektor ächten. Eigentlich ist das ein No-Go, auch in den meisten Ultra-Gruppen. Ich kann mir darum gut vorstellen, dass die Aktion innerhalb der Kurve viel zu reden gegeben hat und sicher auch kritisiert wurde, obwohl es als erste Reaktion von manchen Applaus gab. Dass die Selbstregulierung am Zürcher Derby nicht geklappt hat, bedeutet nicht, dass Selbstregulierung nicht funktioniert. Wenn sie stattfindet, bekommen Aussenstehende davon einfach nichts mit.


Es gäbe auch noch den englischen Weg.
Dort gibt es nur noch Sitzplätze, und Stewards kontrollieren, dass auch wirklich alle sitzen. Vor allem aber wurden die Ticketpreise dermassen erhöht, dass die ärmere Bevölkerung und viele Junge sich den Stadionbesuch gar nicht mehr leisten können. Dadurch sind Gewalt und alle Störaktionen aus dem Stadion komplett verschwunden, das stimmt. Es ging aber auch die englische Fankultur verloren, die früher stilbildend für ganz Europa war. Die Kurve als Begegnungsort junger Menschen, die gemeinsam etwas auf die Beine stellen, ihre eigene Kultur entwickeln, Freiheit und Selbstwirksamkeit erfahren, das gibt es nicht mehr. Fankultur in England ist zu einer Publikumskultur geworden, die Fans sind in erster Linie Zuschauer, keine Akteure. Ich glaube nicht, dass das in der Schweiz funktionieren würde. Auch in Deutschland nicht.

«Gerade wenn sich die Fans von der Vereinspolitik entfremdet fühlen, gilt ihre Identifikation nicht dem Verein als solchem.»

Jonas Gabler, Fanforscher

Warum nicht?
Die Premier League in England ist sportlich unheimlich attraktiv. Der Fussball als Sport genügt, damit die Leute ins Stadion gehen. In schwächeren Ligen wie der Schweiz hingegen ist das sportliche Ereignis eher zweitrangig. Das Erlebnis, die Emotionen, die Geselligkeit sind wichtiger. Ohne Kurvenfans, ohne ihre Gesänge, ohne ihre Choreos würde auch den Zuschauern auf der Haupttribüne etwas fehlen. Es gäbe wohl deutlich weniger Zuschauer. Auch Gästefans gehören zum Stadionerlebnis dazu. Die Rivalität, das macht den Mannschaftssport aus, beim Skifahren gibt es keine Gegner. Wenn Politiker nun als Reaktion auf gewalttätige Vorfälle Gästefans ausschliessen wollen, dann bestraft man wieder alle, weil sich ein winziger Promillebereich an Leuten daneben benimmt. Das stärkt erneut nur die Solidarität untereinander und unterminiert die Selbstregulierung.


Würde es die Selbstregulierung stärken, wenn einem Klub Punkte abgezogen würden, wenn es zu gewalttätigen Aktionen kommt? Fans wollen ja, dass ihr Verein Erfolg hat.
Ich glaube, da geht man von einer falschen Vorstellung davon aus, womit sich die Fans identifizieren. Das ist wie die Aussage: «Ihr schadet mit eurem Verhalten dem Verein». Da denken sich doch viele: «Das sagt ihr, der ihr den Verein jahrelang heruntergewirtschaftet habt? Die dauernd überbezahlte Spieler kaufen, die nichts bringen? Da sind die 10'000 Franken Busse wegen unserer Pyros doch lächerlich.» Gerade wenn sich die Fans von der Vereinspolitik entfremdet fühlen, gilt ihre Identifikation nicht dem Verein als solchem. Auch nicht dem Trainer oder den Spielern, die ständig wechseln. Sondern dem Wappen, den Farben, der Geschichte, vor allem aber den Fans selbst. Ohne die anderen Fans würden sich die Fans gar nicht mit dem Verein identifizieren.

Zur Person

Jonas Gabler, Fanforscher

Jonas Gabler, 40, ist Politikwissenschaftler und Fanforscher in Berlin. Er ist Autor des Buchs «Ultras – Fussballfans und Fussballkulturen in Deutschland» und Geschäftsführer der Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene Soziale Arbeit» in Berlin.

Quelle: PD
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