Auf Peter Gerber wartet kistenweise Abfall. Am Montagmorgen steuert er einen weissen Lieferwagen durch die Tiefgarage des Zürcher Engrosmarktes, bis zur «Marinello»-Rampe. Dort stehen schön gestapelt in Harrassen Lebensmittel: gelbe Bananen, frische Beeren, Salat. Ein kurzer Blick genügt Gerber. Es ist gute Ware.

Peter Gerber war eine Weile arbeitslos. Nun arbeitet er als Fahrer für «Reschteglück», das neueste Projekt von Pfarrer Sieber. Auf seiner Route schaut er täglich bei Marinello, Aligro, Bäckereien und auf Bauernhöfen vorbei. Überall dort, wo er abgelaufene Lebensmittel einsammeln kann. Oder solche, die nach ein paar Tagen nicht mehr gebraucht werden können: Weil sich auf der Bananenschale braune Flecken bilden, Erdbeeren schimmeln, Salatköpfe welken.

Was Gerber sammelt, landet auf dem Teller von 80 bis 90 Obdachlosen in der «Sunestube» und anderen Sieber-Häusern. Und ganz nebenbei tut «Reschteglück» etwas gegen die Verschwendung von Lebensmitteln.

Jährlich 115’000 Tonnen verschwendete Lebensmittel

Ob in der Landwirtschaft, bei der Verarbeitung, im Gross- sowie Detailhandel, in der Gastronomie oder in Haushalten – am Ende ist ein Drittel aller Lebensmittel im Müll gelandet. Food Waste, wie das auf neudeutsch heisst, ist aber nicht nur etwas für kleine Hilfswerke. Die Verschwendung von Lebensmitteln ist ein Thema, das auch auf der Agenda des Bundes steht. Der «Aktionsplan Grüne Wirtschaft 2013» enthält deshalb konkrete Vorschläge, wie Food Waste auf nationaler Ebene angegangen werden soll. So haben sich Bauern, Lebensmittelhändler, Gastronomen und Verteiler zusammengeschlossen. Ein Ansatz des Aktionsplans ist, dass Lebensmittelabfälle aus dem Detailhandel an Bedürftige verteilt werden sollen.

Die Detailhändler müssen im Schnitt fünf Prozent der Lebensmittel wegwerfen, weil das Ablaufdatum überschritten oder die Früchte nicht mehr taufrisch sind. Aber diese fünf Prozent sind eine Menge: 115'000 Tonnen jährlich, also rund 5'000 voll beladene 40-Tönner.

Drei Hilfsorganisationen haben dieser Verschwendung von Lebensmitteln den Kampf angesagt: «Tischlein deck dich», Caritas und die «Schweizer Tafel». Sie arbeiten mit hunderten von Unternehmen der Schweizer Lebensmittelbranche zusammen, darunter grosse Player wie Coop, Migros und Aldi. 2015 erhielten sie vom Bund ein gutes Zeugnis ausgestellt: «Die Lebensmittelspende und der Verkauf zu Vorzugskonditionen funktioniert in der Schweiz heute bereits sehr gut», bilanziert er einem Bericht.

Je mehr Hilfswerke, desto besser?

Mit den Sozialwerken Pfarrer Sieber ist jetzt ein neuer Akteur ins Spiel gekommen. Je mehr Hilfswerke mitmachen, desto weniger Lebensmittel landen im Müll, könnte man denken. Doch Coop und Migros haben der Stiftung von Pfarrer Sieber einen Korb gegeben. Die Zusammenarbeit mit «Tischlein deck dich» und der «Schweizer Tafel» laufe gut, es brauche keinen weiteren Partner.

Für «Reschteglück» war die Absage ein Dämpfer, mehr nicht. Denn Projektleiterin Ursula Vollenweider erhält viele Anfragen von kleinen Lebensmittelhändlern, Bauern und Bäckerein: «Wir freuen uns zwar über jedes Angebot, einen Teil müssen wir aber zurückweisen.» Es lohne sich erst ab einer gewissen Menge, Lebensmittel an verschiedenen Orten einzusammeln. Obwohl sie die Lebensmittel gratis erhalten, sind die Kosten für die Food-Waste-Organisation nämlich hoch. Nur an Personalkosten, für Fahrzeuge sowie Kühl- und Lagerräume zahlt sie jährlich rund 425'000 Franken. Die verteilten Lebensmittel kommen auf einen Wert von 200'000 Franken.

Für die Finanzierung des Projekts sind die Sozialwerke auf Spenden angewiesen. 28'600 Franken sind bisher zusammengekommen (Stand 21. Juli 2017), 80'000 Franken haben sich die Sozialwerke als Ziel gesetzt. Das Defizit wird aus dem allgemeinen Spendenaufkommen gedeckt.

Die Bekämpfung von Armut ist teuer

Auch die etablierten Organisationen haben ein Finanzierungsproblem. «2016 konnten die Finanzspenden mit dem höheren Aufwand- und Investitionsbedarf nicht Schritt halten – daher resultierte ein Verlust von 282'000 Franken», heisst es bei «Tischlein deck dich». Auch bei der «Schweizer Tafel» wird dieses Jahr wieder ein Verlust von 426'000 Franken budgetiert. «Wir versuchen, die Finanzierung breit abzustützen. Die Kosten zu decken, wird aber jedes Jahr schwieriger», sagt Geschäftsleiterin Daniela Rondelli.

Aber das Defizit ist nur die eine Seite. Die beiden Organisationen sind trotzdem erfolgreich. «Tischlein deck dich» rettet mit einem Aufwand von rund 4 Millionen Franken Waren im Wert von 26 Millionen Franken. Die «Schweizer Tafel» arbeitet noch effizienter: Bei einem Aufwand von 2,5 Millionen Franken kann sie Lebensmittel im Wert von 26 Millionen Franken verteilen – eine tadellose Bilanz. Bei Pfarrer Sieber sind die Kosten hingegen mehr als doppelt so gross wie der Wert der verteilten Lebensmittel.

Irene kocht für Reschteglück

Die Köchin packt gleich selber an.

Quelle: Beobachter Redaktion

Deshalb wird «Reschteglück» von anderen Organisationen in Frage gestellt: «Die Sozialwerke Pfarrer Sieber leisten eine eindrückliche und tolle Arbeit, aber für die Lebensmittelsammlung benötigt es zusätzliche Kernkompetenzen im Bereich Kühllogistik», findet Alex Stähli, Geschäftsführer von «Tischlein deck dich». Für die Versorgung von Bedürftigen mit Lebensmitteln gebe es in der Schweiz bereits verschiedene Lebensmittelhilfen, die funktionieren. Doch Stähli geht es nicht um Kritik. «Gemeinnützige Organisationen stehen nicht im Konkurrenzverhältnis. Wir sollten enger zusammenarbeiten. Dafür muss jeder seine Stärken nutzen.» Eine effizientere Lösung wäre wohl, wenn die Sozialwerke Pfarrer Sieber von den grösseren Organisationen wie zum Beispiel der «Schweizer Tafel» beliefert würden, so Stähli.

Dies geschieht laut Walter von Arburg, Leiter Kommunikation und Fundraising bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber, bereits teilweise. Auch er bestreitet ein Konkurrenzverhältnis: «Wir arbeiten mit vielen kleineren Anbietern zusammen, die sich für die Schweizer Tafel nicht lohnen. Sobald ein grosser Partner auf uns zukommt, treten wir aber mit ihr in Kontakt.»

80 bis 90 Menüs täglich

In einem Punkt unterscheidet sich Pfarrer Siebers «Reschteglück» jedoch von den anderen Organisationen: Lebensmittel werden nicht nur weitergegeben und verteilt, sondern auch zu fertigen Mahlzeiten verarbeitet.

Am Schluss seiner Sammeltour fährt Peter Gerber zurück ins Christuszentrum, einer weiteren Institution von Pfarrer Sieber. Hier stehen eine grosse Küche und Kühlräume zur Verfügung. In seinem Lieferwagen hat Gerber einen Haufen Gemüse, noch frische Früchte, etwas Fleisch und Kartoffeln. Köchin Irene wartet bereits auf ihn. Sie muss aus den gelieferten Lebensmitteln täglich 80 bis 90 Menüs zubereiten, die an Obdachlose und Bedürftige abgegeben werden. Was Peter Gerber liefert, weiss sie im Voraus nie.

Nach einem groben Blick auf die Ware packt die Köchin selber an: «Das Fleisch kommt in den Tiefkühler, die Beeren kann ich fürs Dessert verwenden». Die Bohnen müssen aussortiert werden, obwohl sie noch gut aussehen. Warum? «In unserer Küche arbeiten Menschen mit einer Leistungseinschränkung», erklärt sie. «Das funktioniert eigentlich sehr gut, aber heute sind drei Mitarbeiter ausgefallen. Deshalb können wir die Bohnen unmöglich entfädeln.» Fisch und Poulet nimmt sie gar nicht erst entgegen, das gesundheitliche Risiko sei zu gross, da eine durchgehende Kühlkette nicht gewährleistet werden kann.

Kurz vor 12 Uhr stehen alle Mahlzeiten bereit. Nun ist Peter Gerber wieder im Einsatz: Ein Teil des Essens bleibt in der Cafeteria des Christuszentrums, ab und zu erhält der «Pfuusbus» einige Menüs. Die Mehrheit der Wärmebehälter fährt Peter Gerber aber in Pfarrer Siebers «Sunestube», wo Menschen mit Sucht- und sozialen Problemen bereits warten. Gegessen wird zusammen. Es schmeckt – ausgezeichnet.