Was den Menschen vom Schimpansen unterscheide, fragte Mani Matter in seinem Chanson: «Hemmige». Wer häufig Zug fährt, wird eines Schlechteren belehrt: Triebgestörte überall. Maske ab, Chipstüte auf, und schon knabbert das Gegenüber im Intercity von Bern nach Zürich. Ganz langsam und genüsslich, schliesslich muss die Familienpackung für eine Stunde reichen. Was der Mann an unverhüllter Zeit gewinnt, verliert er an Form – das ist der Preis der Freiheit.

Tatsache ist: Die meisten Menschen sehen mit Maske besser aus als ohne. Dass im ÖV vorübergehend eine Maskenpflicht besteht, hat aber – zum Glück – keine ästhetischen, sondern viel eher existenzielle Gründe: Niemand will sich beim Pendeln eine Pneumonie holen. Wer also jetzt von Corona die Schnauze voll hat, sollte sich ebendiese im Tram nicht zusätzlich mit einem Salamisandwich stopfen. Das hat nichts mit Autoritätsgläubigkeit zu tun – sondern ganz einfach mit Anstand.

Wenn zwei sich in aller Öffentlichkeit verschlingen, raunt man ihnen zu: «Habt ihr denn kein Bett zuhause?» Wenn nun jemand auf dem Heimweg im ÖV ein Müsli verschlingt, lautet analog dazu die mehr als berechtigte Frage: «Hast du denn keinen Esstisch zuhause?»

Die Fahrt vom Bodensee nach Genf dauert rund vier Stunden. Ohne feste Nahrung hält es der Mensch wochenlang aus. Für viele mag es eine Überraschung sein, aber in der Schweiz ist noch nie jemand im Zug verhungert. Das Argument, man finde sonst keine Zeit, sich zu verpflegen, sticht auch nicht. Im Gegenteil. Es ist ein Indiz dafür, dass jemand die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Mir fällt nur ein einziger vernünftiger Grund ein, derzeit im Zug eine Chipstüte zu öffnen: Wenn der Nachwuchs tobt und beim Tablet der Akku leer ist.

Essen im ÖV in vielen Städten bereits verboten

Der Kniff mit dem Kaffeetrinken, um keine Maske tragen zu müssen, ist nichts anderes als eine egoistische Schlaumeierei. Doch seit Selfie-Politiker und libertäre Kindsköpfe den Aufstand mit Gipfeli proben, findet das Ritual immer mehr Nachahmer. Klar ist: Es sind keine Tellen, es sind Toren. Und sie sind mehr noch eine Zumutung für das Zugpersonal, das angehalten ist, Reisende auf die herrschende Maskenpflicht hinzuweisen Ansteckungsrisiko im Zug Schützt die SBB ihre Passagiere genügend? . Ein Kondukteur ist kein Konditor. Wie soll er wissen, wie lange der durchschnittliche Verzehr eines Gipfelis dauert?

Überhaupt: Essen ausserhalb des Speisewagens war schon vor Corona ein Ärgernis. Wer sich auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch schon mal in eine Big-Mac-Saucenpfütze gesetzt hat, kann ein Lied davon singen. Längst verbieten weltweit viele Städte das Essen in ihren U-Bahnen und Bussen. Des Gestankes wegen, und um sich die hohen Reinigungskosten zu sparen natürlich.

Auch in der Schweiz werden nun die Stimmen lauter, Tupperware-Schüsseln und Chipstüten aus den Abteilen zu verbannen. Zumindest für die Dauer der Pandemie. In einer nicht repräsentativen SRF-Umfrage befürworteten jüngst rund 60 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Essverbot im Zug.

Lieber eine Jumboportion Verachtung statt ein Verbot

Um es kurz zu machen: Ein solches Verbot braucht es nicht. Ganz abgesehen davon, dass eine Umsetzung ohne massive Aufstockung beim Zugpersonal kaum möglich wäre. Der Effekt wäre kontraproduktiv: Die Zugmampfer würden sich als Märtyrer feiern. Als jene Freiheitskämpfer, die sie schon heute vorgeben zu sein. Die neue Regel wäre bloss Anlass für die völlig verquer Denkenden, noch lauter «Diktatur!» zu grölen.

Was tun? Es ist eigentlich ganz einfach: Man muss die Hemmungslosen nicht mit einem Verbot abstrafen – sondern mit einer Jumboportion Verachtung.

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Peter Aeschlimann, Redaktor
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