Aufgezeichnet von Jasmine Helbling:

Ich bin ein Problemlöser und Optimist. Trotzdem überrascht mich, wie einschneidend die Krise nach wie vor ist. Das hätte ich vor drei Jahren nicht gedacht.

Im ersten Lockdown kaufte ich mir eine Bass-Ukulele. Schön war das. Viel Zeit fürs Musizieren, Basteln, Backen. Meine Tochter lernte Velo fahren – mitten in St. Gallen, auf leeren Kreuzungen und Kreiseln. Dann kam der Stress.

Ich arbeite seit über 20 Jahren in der Kultur. Als Texter, Moderator, Künstler und Kulturvermittler. Blendend ging es der Branche nie, aber Corona war ein Tiefpunkt. Ständig änderten sich Schutzkonzepte, wöchentlich mussten wir umdenken. Dürfen Kinder noch ins Museum? Können Künstlerinnen auftreten?

Eine seltsame Frage

Plötzlich waren Themen auf dem Tisch, die man lange unter den Teppich gekehrt hatte: Altersvorsorge, soziale Absicherung, Mindesthonorare, Lohndumping. Kultur ist ein Wirtschaftszweig – das begriffen viele erst jetzt. Wenn ein Theater schliesst, haben die Beizen weniger Gäste. Wenn Konzerte ausfallen, trifft das Künstlerinnen, Veranstalter, Werberinnen und Caterer. Überall wurde diskutiert: Ist Kultur systemrelevant? Was für eine seltsame Frage.

Ein Stillstand kostet den Staat Milliarden und viele Arbeitnehmende den Job. Auch Kinder leiden, wenn keine Kultur mehr stattfindet. Und von sich aus finden viele keinen Zugang zu Literatur, Theater oder Musik. Es braucht einen Anstoss, so war es auch bei mir.

Ich komme aus einem Dorf im Rheintal. Für die Matura war ich zu faul, bei uns ging man «schaffen». Die Eltern hatten eine Metzgerei, der Bruder stieg dort ein. Ich wollte fürs KV auf die Bank, da verdient man viel Geld. Nicht mein bester Plan – schon die Lehre langweilte mich.

«Als Pessimist hätte ich in dieser Branche nicht überlebt.»

Richi Küttel

An der Berufsschule erzählte mir ein Mitschüler, dass er schreibe. Ich fand: Cool, das probiere ich auch. Kurz darauf gründeten wir eine Literaturzeitschrift: A4, quer, mit Bostitch geklammert. Zuerst für uns, dann auch für andere. In den Nullerjahren kam Slam-Poetry in die Schweiz. Die Bühnen gehörten den Jungen und Wilden. Wir trafen uns jedes Wochenende, reisten nach Deutschland, schrieben wie die Verrückten.

Und überall taten sich Türen auf: Projekte, Aufträge, Stellen. Mit 32 verliess ich die Bank und schaute nie zurück. Wenn ich heute merke, wie es Jugendlichen bei einem meiner Poetry-Slam-Workshops den Ärmel reinzieht, dann denke ich: genau so! Das ist es.

Als Pessimist hätte ich in dieser Branche nicht überlebt. Alles ist unverbindlich geworden. Man sagt spontan zu oder ab, will sich nicht committen. Für Veranstalter ist das fatal. Sie buchen Räume, machen Inserate, produzieren Videos, tapezieren Städte mit Plakaten. Dann werden sie im Vorverkauf ein paar wenige Tickets los. Oft ist es billiger, einen Event einfach abzusagen.

Bloss nichts Ernsthaftes

Viele meiner Kollegen versuchen, das Risiko zu minimieren. Sie buchen nur noch grosse Nummern. Am besten Komiker, bloss nichts Ernsthaftes oder Experimentelles. Lieber in einer kleinen Bar als in einem halbleeren Club. Die Verlierer sind Newcomer. Junge Leute, die sich ausprobieren.

Oft heisst es, wir bräuchten mehr finanzielle Förderung. So einfach ist das nicht. Können wir jeden fördern, wenn alle ums Überleben kämpfen? Ein Angebot ankurbeln, das keine Nachfrage hat (siehe Veranstaltungshinweis)? Ich habe keine Antworten.

Manchmal bin ich müde, zum Glück nie lange. Wir müssen durchhalten. Eine Alternative gibt es nicht. Noch immer steckt ein Kaufmann in mir: Wenns nicht geht, muss man umplanen und anders budgetieren. Ich denke in Lösungen, nicht in Problemen.

An einer Turnhalle in St. Gallen steht: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.» Ein Schiller-Zitat. Kultur macht uns menschlich. Sprache, Gesang und Musik. Über Qualität und Quantität können wir diskutieren – aber niemals darüber, ob es Kultur überhaupt braucht. Man benötigt einen langen Schnuuf, das stimmt, aber den habe ich. Ein paar andere zum Glück auch.

Veranstaltungshinweis

Kulturstammtisch: «Zu viel Kultur?»  Sonntag, 12. Februar um 11 Uhr

Wie viel Kulturförderung braucht es? Gibt es zu viel? Oder ist da einfach zu wenig Publikum? Über diese Fragen diskutiert Beobachter-Podcast-Host Eric Facon mit Richi Küttel und weiteren Gästen in der St. Galler Militärkantine. Mehr Infos 

Das Gespräch wird aufgezeichnet und ist im Anschluss beim Podcast «Kulturstammtisch» zu hören. 

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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