Beobachter: Marc Haller, wir haben gerade gestritten, wer den Kaffee bezahlen darf. Davor haben Sie mich angerufen, weil Sie zwei Minuten zu spät dran waren. 
Marc Haller: Huch ja! Ist das schlimm?


Sagen Sies mir!
Ja ... Nein? Wie schweizerisch! So fühle ich mich sonst nur, wenn mich die türkischen Nachbarn einladen. Dann komme ich auf die Minute pünktlich und bringe ein Geschenk mit. Bedanke mich ständig und entschuldige mich noch öfter.


Das klingt doch ganz nett?
Und spiessig! Aber ich kanns nicht leugnen: Logisch bin ich ein Bünzli! Immer wieder erwische ich mich bei Vorurteilen, für die ich mich schäme.


Zum Beispiel?
Städterinnen sind modern und offen, Landbewohner konservativ und verschlossen. Dabei erlebe ich ständig das Gegenteil! Weshalb überrascht es mich, wenn in einem Bergdorf nicht nur Eigenbrötler und SVP-Wählerinnen wohnen? Als ob man die ganze Landbevölkerung in eine Schublade stecken könnte!


Sie sind Zauberer und Comedian. Bestimmt landen Sie auch in einer Schublade. 
Man hält mich für einen Kreativen. Einen Entertainer, der ständig Witze reisst und nicht still sitzen kann. Dabei bin ich privat nicht lustig, null. Ich mag keinen Smalltalk und beobachte lieber. 


Trotzdem verdienen Sie Ihr Geld auf der Bühne.
Mit zwölf sah ich einen Zauberer, der mich flashte. Weil er nicht nur Tricks vorführte, sondern mit dem Publikum spielte. Danach wünschte ich mir zum Geburtstag Zauberkurse und gab mein Sackgeld im Zauberladen aus. Irgendwann fragte der Besitzer, ob ich samstags da arbeiten wolle. Ich fühlte mich wie Harry Potter, der zum ersten Mal die Winkelgasse betritt – eine neue, verborgene Welt. Und später besuchte ich die Zauberschule.


Hogwarts!
Eine abgespeckte Version davon! Ich war ein spezieller Teenager. Ging nie in den Ausgang und übte jeden Abend Tricks. Ich steppte im Keller und zerkratzte den Boden. 


Nach dem Gymi waren Sie ein Jahr an einer New Yorker Schauspielschule, dann studierten Sie am Wiener Konservatorium. So gar nicht bünzlig!
Ich wollte raus in die weite Welt, rauf auf die grössten Bühnen. Doch dann stand ich hinter den roten Vorhängen und zitterte wie Espenlaub. Ich war verkrampft und nervös, beherrschte nicht mal Bühnenhochdeutsch. Es gab zwei Möglichkeiten: aufgeben – oder die Schwächen nutzen. 


So entstand Ihr Alter Ego, Erwin aus der Schweiz. 
Ein schussliger Träumer mit Hochwasserhosen und Hornbrille. Etwas verklemmt, aber liebenswürdig. Ich erinnere mich gut an den ersten Auftritt. Am Wiener Burgtheater, vor einem riesigen Publikum. Die hatten eine Terminkollision, ich rutschte rein und versuchte es. Bäng – es war magic! Die Österreicher liebten Erwin. 


Weshalb?
Weil sie uns Schweizer wirklich so sehen: schrullig und sympathisch. Und weil sie uns ähnlich sind: höflich und zurückhaltend. In den Augen der Deutschen sind wir die «Tölpeli» mit den lustigen Akzenten. Aber es ist nicht nur das. Erwin hält den Menschen den Spiegel vor: Auf den ersten Blick mag er ein Bünzli sein. Ein Produkt seiner Erziehung und seines Umfelds. Aber damit gibt er sich nicht zufrieden. Erwin ist ein Träumer und ein Suchender. Er sieht die Welt mit den Augen eines Kindes – voller Begeisterung und Neugier. Das weckt Erinnerungen im Publikum. 


2012 schafften Sie es ins Finale der ORF-Show «Die grosse Comedy-Chance». In der Schweiz war Erwin kaum bekannt.
Ich scheute mich lange vor Auftritten in der Heimat. Da war ich weniger anonym und stellte mir tausend Fragen. Fühlt sich das Publikum angegriffen? Was, wenn niemand lacht? Bin ich überhaupt gut genug? Platzt der Traum doch wieder?


Sie hören sich an wie Erwin. 
Ich bin Erwin! Bühnenfiguren müssen authentisch sein. Als Erwin darf ich stottern und stolpern. Den Text vergessen, die Schultern bis zu den Ohren ziehen. Ich spiele damit, dass die Menschen denken: «Oje, das geht komplett schief!» Und am Schluss funktionierts doch – nur anders als gedacht. Es ist eine Erleichterung, meine Nervosität nicht verbergen zu müssen. 


Nach all den Jahren sind Sie noch nervös?
Ja wirklich. Es hat ewig gedauert, bis ich Videos von mir sehen konnte. Es gab katastrophale Auftritte, nach denen ich mich verstecken wollte. Oder aufhören. Manche Menschen haben einmal im Leben eine Midlife-Crisis, bei mir kommt die regelmässig. Ich liebe und hasse meinen Job. 


Und doch sind Sie dabeigeblieben. 
Scheitern gehört dazu, das musste ich lernen. Ich bin überzeugt: Richtig erfolgreiche Künstlerinnen haben richtig schlechte Erfahrungen gemacht. Und sind dann wieder aufgestanden. Im Wissen, dass der Weg holprig ist. 


Apropos holprig: Corona …
Schlimm!


Schlimm?
Schlimm! Ich kann zaubern, schauspielern, unterhalten. Nichts davon war noch etwas wert. Das Geld ging aus, also vermittelte mir mein Vater einen Job in der Firma meines Bruders. Ich fuhr einen verbeulten Lieferwagen und trug Akten aus. Auf Ämtern wurde ich wie Luft behandelt oder zusammengeschissen. Da realisierte ich, dass ich einen Plan B brauche. Einen anderen. 


Welchen?
In meiner Freizeit fliege ich Helikopter. Also kam ich auf die Idee, mich bei der Swiss zu bewerben. Leider sind meine Augen zu schlecht. Vielleicht studiere ich eines Tages wieder, gerade brüte ich über neuen Bühnenprojekten. Meine Bedürfnisse stehen aber nicht mehr an oberster Stelle.


Sie sind vor drei Jahren Vater geworden.
Früher sagten alle: «Das verändert dich komplett.» Ich dachte: «Jaja, blabla.» Und sage heute dasselbe. Vor kurzem fragte meine Tochter: «Du Papi, wer hat den Himmel gebaut?» So was inspiriert mich. Mein neues Programm wird eines für Erwachsene und Kinder – für alle. Ich frage mich darin, was wirklich wichtig ist. Nicht nur als Erwin, sondern auch als Marc.


Marc Haller, wer hat den Himmel gebaut?
Ich bin und bleibe ein Suchender. Wenn ich die Antwort finde, melde ich mich. 

 

Marc Haller, 35, ist Comedian und Zauberer. Am 12. Dezember tritt er am Arosa Humorfestival auf. Der Beobachter ist Medienpartner des Festivals. Beobachter-Mitglieder profitieren von Spezialangeboten

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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