Dienstag, mitten in Zürich. In der leeren Citykirche am Stauffacher sitzt Sacha Rüegg am Flügel. «Vielleicht kommt niemand», sagt er. «Trotzdem: Ich bin da. Wie ein Fels in der Brandung.» An der Wand hängt seine Einladung, ein laminiertes A4-Blatt, darauf steht: «Musik kann vielleicht nicht die Welt retten, aber deine Seele.»

Der 50-Jährige ist Organist und Kantor, kümmert sich um alles, was mit Musik zu tun hat, von der Orgelnacht bis zum Chor und, wie immer am Dienstag ab 13.15 Uhr, um die musikalische Seelsorge.

Im milchigen Licht, das durch die Fenster dringt, wirkt das grosse, leere Kirchenschiff wie aus der Zeit gefallen. Vorne vor dem Abendmahltisch stehen ein Flügel, eine brennende Kerze und fünf Stühle. Sacha Rüegg bindet seinen Jack-Russell-Mischling Astor fest, legt Kissen auf die Stühle, setzt sich an den Flügel – und wartet auf Menschen.

«Wenn jemand reinkommt, frage ich immer ­zuerst, was er oder sie sich wünscht.»

Sacha Rüegg, Organist

Solche, die Trost und Halt suchen, sich nach innerer Einkehr sehnen, der Einsamkeit entfliehen oder, wie jetzt vor Ostern, das Leben feiern wollen; kurzum: auf eine menschliche Seele, die er mit seiner Musik und möglichst ohne Worte berühren kann. Das unterscheidet sein Angebot von der herkömmlichen Seelsorge.

«Wenn jemand reinkommt, frage ich immer zuerst, was er oder sie sich wünscht.» Darauf antworten die meisten Gäste: «etwas Tröstliches» oder «ruhige Orgelmusik». Manche fordern ihn auch auf, einfach draufloszuspielen.

Eine junge Frau habe einmal einen zwölfstrophigen Choral singen wollen. Er begleitete sie am Klavier. Andere brächten ein Zitat aus ihrem Lieblingsbuch mit, das ihm als Inspiration dienen soll. «Wieder andere kommen gar nicht wegen der Musik, sondern weil sie eine Kerze anzünden wollen – und bleiben dann sitzen», erzählt der Organist.

Organist Sacha Rüegg

Organist Sacha Rüegg

Quelle: Anne Gabriel-Jürgens

Ein Mann betritt die Kirche und setzt sich auf einen der Stühle. «Grüezi Herr Cotti!», ruft Rüegg ihm entgegen. Die beiden Männer kennen sich, der 82-jährige Jean Pierre Cotti ist ein Stammgast. «Heute möchte ich einen Marsch, einen Walzer und einen Tango, Reihenfolge egal», sagt Cotti.

Rüegg lacht und sucht auf dem iPad nach den Noten eines Walzers. Als die ersten Klänge ertönen, schliesst Cotti die Augen. «Wunderbar!»

Eine Tür geht auf

Rüegg spielt auch noch den Tango. Davor und danach fragt er Cotti, ob es ihm gefallen habe. Und fragt: Warum? Was genau? «Das mache ich immer», sagt er. So versuche er herauszuspüren, was die Person bewege, in welcher Gefühlslage sie sich befinde. Es ist wie ein Herantasten an die Seele mittels Trial and Error.

Er spielt ein bestehendes Werk oder improvisiert frei, beobachtet die Reaktion, reagiert darauf in seinem weiteren Spiel und passt es an. «Meistens merke ich, wenn beim anderen die Tür aufgeht.» Auch bei Cotti scheint eine Tür aufzugehen, als Rüegg nun, statt des gewünschten Marschs, ein Minimal-Music-Stück anschlägt. Endlos sich wiederholende Klangströme erfüllen den Raum, und Cottis Gesicht wirkt plötzlich ganz weich.

Gleichzeitig betritt eine Frau die Kirche, blickt sich um, setzt sich dann auf eine der wenigen Bänke ganz hinten am Eingang. Als die Musik verklungen ist, spricht Rüegg sie an. Sie habe sich in der Kirche die Lichtshow anschauen wollen, erzählt Margrit Giger, 75. «Aber die ist wohl schon vorbei.» Rüegg fragt, ob er für sie etwas spielen dürfe. Schüchtern winkt sie ab. «Ich höre Ihnen gern zu.»

Eine Frau in der Citykirche hört dem Orgelspiel zu

Sacha Rüegg begrüsst Margrit Giger

Quelle: Anne Gabriel-Jürgens

Er setzt sich wieder an den Flügel, denkt kurz nach, spielt. Es klingt nach glucksenden Bächen. Cottis Mundwinkel kräuseln sich zu einem Lächeln. Die Frau blickt in eine Ferne, die nur sie sieht. Bevor sie geht, legt sie sich die Hand auf die Brust.

Nun macht sich auch Cotti auf den Weg, zögernd, als wäre er noch nicht bereit für das, was ihn draussen erwartet. «Das hier», er deutet auf Rüegg und den Flügel, «ist eine Begegnung, bei der ich nichts muss, sondern einfach nur sein darf.»

Für Jean Pierre Cotti macht Sacha Rüegg oft Musik.

Für Jean Pierre Cotti macht Sacha Rüegg oft Musik.

Quelle: Anne Gabriel-Jürgens

Die Musik beflügle ihn, er spüre danach immer eine Leichtigkeit. «Die Gedanken können dann wieder fliessen, und die Schwere des Alltags löst sich einfach auf», sagt Cotti. Er gibt sich einen letzten Ruck und verschwindet mit schnellen Schritten durch die Hauptpforte.

Zum Trost einen Walzer

Rüeggs Seelsorge ist eine kleine, bescheidene Geste: ein Mann, der in einer leeren Kirche für andere Klavier spielt. Mehr ist es nicht. Und trotzdem ist es so viel mehr. Beim Abschied wirken Cotti und Giger verändert.

Sie wirken, als würden sie aus einer langen und guten Umarmung entlassen. «Die Leute kommen oft mit einer Unruhe oder Trauer zu mir», sagt Rüegg.

«Wenn sie gehen, spüre ich, dass sie ruhiger geworden sind.» Das liege nicht nur an der Musik. «Auch dass da jemand ist, der sich Zeit für sie nimmt, tröstet sie.»

«Wunderbar!», sagt Jean Pierre Cotti über die musikalische Seelsorge.

«Wunderbar!», sagt Jean Pierre Cotti über die musikalische Seelsorge.

Quelle: Anne Gabriel-Jürgens

Fünf Minuten vor Schluss, Rüegg hat Astor bereits losgebunden, erscheint ein hagerer Mann um die 50. Er heisst Alex. Den Nachnamen verrät er nicht. Ein Freund von ihm ist schwer erkrankt, und Alex schreibt für ihn etwas ins Gebetsbuch.

Danach erst bemerkt er Rüegg. «Darf ich mir etwas wünschen?», fragt er. Er wählt einen Chopin-Walzer. Während Rüegg spielt, bückt sich Alex, um Astor zu streicheln. Am Ende atmet er tief ein und aus. «Das hat mir jetzt Wärme gegeben.»

Info

Die musikalische Seelsorge in der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich findet jeden Dienstag von 13.15 bis 14.15 Uhr statt, ausser in den Schulferien. Eine Anmeldung ist nicht nötig.