Beobachter: Frau Noth, die einen zelebrieren Weihnachten mit Leidenschaft, andere ergreifen die Flucht. Weshalb polarisiert dieses Fest so stark
Isabelle Noth: Die Bandbreite an Erfahrungen und Emotionen, die mit Weihnachten zusammenhängen, sind enorm gross. Wie auch die Hoffnungen, die an diese Feier geknüpft werden. Das kann Druck erzeugen. Idealisierte Bilder aus der Kindheit und liebgewonnene Rituale zu zelebrieren und zu geniessen, kann eine grosse Ressource für Menschen sein, die hauptsächlich schöne und unbelastete familiäre Erinnerungen mit dem Fest verbinden. Es gibt aber auch Menschen, die nur Stress und Enttäuschung mit all den missglückten Zusammenkünften verbinden und solche am liebsten meiden wollen.


Warum sind solche Erfahrungen so belastend?
Es geht um Sehnsüchte, die sich an diesen Tagen kondensieren und nicht erfüllt werden. Wir alle haben das Bedürfnis nach guten Beziehungen. Doch wie viele von uns sind einsam, wie viele haben schmerzhafte Beziehungen? Viele wünschen sich eine rundum glückliche, harmonische Familie. Doch wer hat das schon? Viele versuchen, sich an Weihnachten zusammenzureissen, überfordern sich damit und erreichen oft genau das Gegenteil. Sich an Idealen zu messen, kann sehr schmerzhaft sein. Es rührt an tiefe Schichten unserer Existenz. Abwehr ist da eine verständliche Reaktion.


Die Abwehr gilt oft auch scheinbar unveränderlichen Familientraditionen. Dabei könnten wir doch anstatt «Stille Nacht» auch etwas von den Beatles singen?
«Mother Mary comes to me» – natürlich, das könnten wir singen. Doch es ist nicht so einfach, Kulturgüter wie Lieder durch neue abzulösen. Gerade in einer Gesellschaft, die immer pluraler wird, ergibt es auch Sinn, an bestehenden Ritualen festzuhalten. Sie dienen der Orientierung und sind auch dazu da, Gemeinschaft herzustellen, zu integrieren. Feste und Rituale sind Inseln im Alltag.

«Weihnachten ist die Zeit des Besinnens. Und Besinnen kann schrecklich wehtun.»

Isabelle Noth, Professorin für Seel­sorge, Religionspsychologie und -pädagogik an der Universität Bern

Unsere Gesellschaft säkularisiert sich zunehmend, trotzdem wird Weihnachten immer stärker aufgeblasen. Wie kommt das?
Unsere Gesellschaft und ihre Rituale sind seit Jahrhunderten stark vom christlichen Glauben beeinflusst. Unsere Hoffnungen und Wünsche, unsere Bilder von einem guten Leben haben christliche Wurzeln. Auch jene Menschen, die nichts mehr mit Gott oder der Kirche am Hut haben, sind davon geprägt. Und dass sich religiöse Feiern auch unter ökonomischen Gesichtspunkten verwerten lassen, wird bei Weihnachten offensichtlich.


So viele Geschenke! Wie sehr gehören sie dazu?
Schon in der Bibel erhält das Jesuskind zu seiner Geburt Geschenke. Schenken und beschenkt zu werden, ist schön und wichtig und gehört zu Weihnachten dazu. In einer Konsumgesellschaft wird versucht, aus diesem wertvollen zwischenmenschlichen Akt Profit zu schlagen. Es ist einfach: Die Werbung dockt bei unseren Wünschen an, und gerade bei den tiefen, urmenschlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten, die Weihnachten auslöst, sind wir sehr ansprechbar.


Weshalb verfallen so viele in der Weihnachtszeit derart dem Shoppen und Trinken?
Wenn Menschen masslos werden, ist das meist Ausdruck davon, dass man sich nicht regulieren kann und mit eigenen Gefühlen nicht klarkommt. Weihnachten ist die Zeit des Besinnens. Und Besinnen kann schrecklich wehtun. Doch es gibt auch viele Leute, die der ganze Konsum rund um Weihnachten abstösst und die ihn klar ablehnen, weil deswegen das Eigentliche untergeht.

«Der Heilige Abend ist nicht nur der Abend des holden Glücks und der fröhlichen Eintracht, sondern auch der grossen Familienstreitigkeiten und sogar der häus­lichen Gewalt.»

Isabelle Noth

Was ist das Eigentliche an Weihnachten?
Weihnachten ist das Fest der Liebe. Vielen Menschen ist das nicht mehr so bewusst. Doch wenn sie eine Krippe sehen, dämmert es. Es geht um die Geburt von Jesus, die Verletzlichkeit und das Ausgestossensein dieser Familie.


Immerhin gilt Weihnachten bis heute als das Familienfest schlechthin.
Man kann nicht über Weihnachten sprechen, ohne dass die Familie irgendwie thematisiert wird. Wir werden zurückgeworfen auf die eigene Familie. Doch der Heilige Abend ist nicht nur der Abend des holden Glücks und der fröhlichen Eintracht, sondern auch der grossen Familienstreitigkeiten und sogar der häuslichen Gewalt, die an Sonn- und Feiertagen deutlich häufiger vorkommt als sonst.


Wird Weihnachten heute anders gefeiert als vor 50 Jahren?
Man bemüht sich stärker, Menschen nicht auszuschliessen. Auch wenn es ein christliches Fest ist, sollen alle eingeladen sein – die ganze Menschheitsfamilie. Ich weiss von so vielen, die an diesen Tagen allein zu Hause sind, Alleinstehende, Verwitwete, Menschen, die sich mit ihren Familien verkracht haben. Und an diesen Tagen fühlt sich das Alleinsein noch schmerzhafter an. Deshalb sind gemeinschaftliche Anlässe so wichtig, bei denen man miteinander feiert. Eine solche Öffnung wirkt entspannend. Denn das Ideal von Gesang und Gelächter bei Kerzenlicht erfüllt sich im grösseren Kreis eher als in der Kleinfamilie.


Aber Weihnachten muss man mit der Familie feiern, so gehört sich das?
Um Gottes willen! Man muss überhaupt nicht miteinander feiern, wenn einem nicht drum ist. Das sind wieder diese Idealvorstellungen. Wir sollten diese Tage nicht derart überfrachten. Vielleicht reicht es, zu einem Apéro zusammenzukommen. Nicht vergessen sollte man jedoch, dass dieses Fest gerade für Kinder sehr wichtig ist. Der Zauber, die Kerzen, die liebevolle Familie, die gemeinsam mit den Tieren im Stall geborgen ist – das sind starke Bilder für Kinder. Und ebenso für Erwachsene.

Zur Person

Isabelle Noth, 55, ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und -pädagogik an der Universität Bern. Aufgewachsen in den USA, hat Noth ihre höhere Ausbildung in der Schweiz absolviert und in Bern den CAS-Lehrgang «Spiritual Care» initiiert.

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