Beobachter: Wir sitzen hier in Luzern am See. Vor Corona drängten sich noch asiatische Touristen durch die Stadt. Mit welchem Bild der Schweiz sind die Chinesen heimgekehrt?
Pascal Nufer: Die schönen Landschaften, die saubere Luft, Wohlstand und Sicherheit. Viel mehr bleibt bei dieser Art von Tourismus nicht hängen. Es zeichnet sich aber ein Wandel ab. Eine Art Semi-Individualtourismus soll der nächste Boom werden. Chinesen Mentalität «Die Chinesen sind uns sehr ähnlich» , die wandern, im Stroh auf dem Bauernhof übernachten, im Welschland an der Weinernte mithelfen oder in Zürich Jazzkonzerte besuchen. Sie werden sich vielleicht mehr dafür interessieren, wie unsere Gesellschaft tickt.


Wir hängen ja der Illusion nach, wirtschaftlicher Austausch, Wohlstand und Tourismus würden westlichen Werten wie Selbstbestimmung und Demokratie letztlich zum Durchbruch verhelfen. In China passiert das Gegenteil.
Ja, die Vorstellung, wirtschaftliche Öffnung führe zu einer offenen Gesellschaft, ist offensichtlich falsch. Das kommt jetzt in den Köpfen im Westen an. Es ist auch eine der grössten Enttäuschungen über Staatspräsident Xi Jinping, der 2013 ja als Hoffnungsträger an die Macht kam.


Sie schreiben in Ihrem Buch über «die Diktatur der Bequemlichkeit», die in der Bevölkerung alle Bedenken gegenüber einer totalen Überwachung hinwegfegt. Wie muss man sich das vorstellen?
In China China auf dem Vormarsch Die Schweiz in den Fängen des Drachen sind Social-Media-Apps wie WeChat und Bezahlsystem so bequem ineinander verzahnt, dass man um eine Nutzung fast nicht herumkommt. Ein Bild in meinem Buch veranschaulicht das. Ein Bettler sitzt mit einem QR-Code um den Hals am Boden. Passanten können ihm per Handy schnell etwas Geld überweisen – obwohl Betteln ja eigentlich verboten ist. Fast jede Aktivität wird vom Staat erfasst und ausgewertet, der Bürger wird über ein Punktesystem bewertet. Die meisten akzeptieren das nicht bloss. Sie sind auch überzeugt, dass die zum Wohl der gesamten Gesellschaft beiträgt.


Verhalten wir uns im Westen nicht sehr ähnlich? Wir übergeben unsere Daten einfach mächtigen Tech-Unternehmen statt dem Staat.
Immerhin können wir Mark Zuckerberg auch mal vor ein EU-Gericht zitieren. Versuchen sie das mal mit einem Vertreter der chinesischen Internetbehörde. Der kommt einfach nicht. Bei uns gibt es auch Debatten über Datenschutz Datenschutzverletzung Ist das ein Verstoss gegen das Gesetz? und eine Konkurrenz zwischen Anbietern sozialer Netzwerke und Bezahlsysteme. Und wir können eher verzichten, wenn wir das wollen.


Sie haben auch ein anderes China gesucht und gefunden. Aussteiger zum Beispiel, die in einem Bergdorf ein anderes Leben suchen.
Ja. Und für diese Aussteiger im Himalaya ist das nicht bloss ein netter Ausflug, wie für manche Westler, die dorthin fahren. Man kann nicht mal ein bisschen Hippie sein, um übermorgen wieder einen Job zu suchen. Es ist verdammt ernst. Man kann zum Beispiel seine Kinder nicht mehr in die Schule schicken. Verboten ist das noch nicht. Die Leute konsumieren einfach weniger und entziehen sich so der Kontrolle. Wie das enden wird ist unklar. Der Konsum ist in China ja gewissermassen zur Bürgerpflicht geworden. Auf ihm baut das System und die Kontrolle auf.

«Der chinesische Imperialismus basierte schon immer auf der Loyalität befreundeter – und auch gekaufter – Staaten.»

Pascal Nufer, Buchautor und Ex-SRF-China-Korrespondent

In unfreien Gesellschaften hofft man ja auf aufmüpfige Künstler. Ihr Einblick in diese Szenen ist auch eher trostlos.
Ja, es ist verrückt. Es grassiert ein vorauseilender Gehorsam, um mit Zensurbehörden erst gar nicht in Konflikt zu kommen. Das ist ein gefährliches Virus. Eine Band hat zum Beispiel ihr Video vom Netz genommen, in dem ein traditioneller Vogelkäfig zerschmettert wird. Das könnte ja als Protest gegen die unfreie Gesellschaft interpretiert werden. Die Musiker zensurierten sich selber, weil sie befürchten, sonst an einer Casting-Show nicht teilnehmen zu können. Die Fans wüssten ja auch ohne das Video, wofür sie eigentlich stehen würden. Man braucht dafür nicht «Fuck Xi Jinping» in Mikrofon zu schreien. Andere Künstler verziehen sich in ihre Übungsräume und Ateliers zurück, um dort ein kleineres Publikum zu empfangen, dafür ohne Zensur.


Als der 34-jährige Arzt Li Wenliang von seinem Totenbett vor Corona warnte, ging eine Protestwelle gegen den Staat durchs Land. Ein Hoffnungsschimmer?
Auf jeden Fall. Die beste künstliche Intelligenz kann nicht verhindern, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Das hat etwas Hoffnungsvolles. Dass die Menschlichkeit letztlich gewinnt. Es gibt immer wieder solche Momente, in denen der Algorithmus staatskritische Äusserungen zu spät erkennt. Das öffnet ein Zeitfenster für Proteste. Und da werden auch Menschen emotional, von denen ich das nie erwartet hätte, ein sonst eher angepasste Kleinunternehmer zum Beispiel.


Was gerade in Hongkong passiert, löst heftige Kritik und Boykottdrohungen im Westen aus. Wie kommt das bei der chinesischen Bevölkerung an?
Zensuriert und als Sodom und Gomorrha. Die Proteste in Hongkong sollen ein Beleg sein, dass westliche Demokratievorstellungen ins Chaos führen. Und dass man der Bevölkerung dort jetzt dringend helfen müsse. Das gleiche gilt übrigens für die Riots nach Black-Live-Matters-Protesten in den USA. Der Westen versagt und die chinesische Bevölkerung soll froh sein, dass sie es besser hat. Ich denke, Trump spielt mit seiner Politik der Polarisierung den Chinesen gerade verhängnisvoll in die Hände.


Die Schweiz ist die Pionierin im modernen Chinageschäft. Dafür wird sie von Peking ständig gelobt. Machen wir etwas falsch?
Wir profitieren von einer wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die von den Chinesen auch als Feigenblatt missbraucht wird, um Regierungspolitik zu legitimieren. Wir lassen uns vor diesen Karren spannen und eine breite Wertediskurs wäre auch in der Schweiz dringend nötig. Auch mit den Unternehmen, die vom Chinageschäft profitieren Syngenta, Bally & Co. Diese 15 Schweizer Firmen sind in chinesischer Hand .


China pumpt gigantische Summen in die neue Seidenstrasse. Waren sollen so schneller in den Westen gelangen. In ihrem Buch warnt ein Wirtschaftsprofessor in Hongkong, über die Verbindung würden auch chinesische Werte in den Westen fliessen. Wie funktioniert das?
China investiert in die Länder an der Route. Für sie wird es dann kaum eine Frage sein, ob man zum Beispiel den staatsnahen Konzern Huaweii als Lieferanten für das Internet- und Telefongeschäft zulassen soll. In Europa ist das in Ungarn der Fall, Italien und Griechenland sind zumindest Wackelkandidaten. Mit dieser wirtschaftlichen Zückerchen-Politik werden auch Strategien legitmiert, wie man die eigene Bevölkerung umgehen kann. Das passiert zum Beispiel in Südostasien. Das autokratische chinesische Modell findet als Regierungsform zunehmend Beifall.


Der Westen kritisiert die wachsende Macht der Chinesen in internationalen Organisationen, zum Beispiel der WHO. Zu recht?
Es geht nicht bloss um den Einfluss von China als Land. Entscheidend sind oft die 54 afrikanischen Stimmen in den Vereinten Nationen. Die Chinesen wollen diese Länder auf ihrer Seite wissen. Und sie investieren darum grosszügig in Afrika. Der chinesische Imperialismus basierte schon immer auf der Loyalität befreundeter – und auch gekaufter – Staaten.

Änderung am 6. August 2020: «China investiert in die Länder an der Route. Für sie wird es dann kaum eine Frage sein, ob man zum Beispiel den Staatskonzern staatsnahen Konzern Huawei als Operator Lieferanten für das Internet- und Telefongeschäft zulassen soll.»

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Faszination China
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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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