Meine erste Pfändung als frischgebackener Mitarbeiter des Betreibungsamts wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben. Damals, in den frühen 1980er-Jahren, herrschte hier im Zürcher Kreis 4 noch richtige Milieu-Atmosphäre. Adressatin des Schreibens war eine Frau, die als Prostituierte arbeitete. Sie öffnete mir die Tür in ihrer Arbeitskleidung, und ich wusste kaum, wohin schauen. An die spezielle Atmosphäre hier an der Langstrasse habe ich mich schnell gewöhnt.

Seit fast 30 Jahren leite ich das hiesige Amt als sogenannter Stadtammann. Neben Betreibungen kümmern wir uns auch um Beglaubigungen, gerichtliche Verbote oder Ausweisungen aus Wohnungen.

Kaum tätliche Angriffe

Pfändungen vollziehen muss ich als Stadtammann nicht mehr, das machen meine Mitarbeitenden. Bei schwierigen Ausweisungen bin ich hingegen dabei. Dazu kommt es etwa, wenn jemand trotz rechtskräftiger Kündigung nicht auszieht. Typische Fälle sind alleinstehende alte Menschen, die den Alltag nicht mehr bewältigen können und verwahrlosen. Meistens kennen wir die Person und können abschätzen, wie die Ausweisung ablaufen wird. Wir überlegen dann, welche Unterstützung nötig ist – beispielsweise vom gerontologischen Dienst.

So vorbereitet, läuft es in der Regel ruhig ab. Trotzdem gehen mir einzelne Fälle nahe. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Ausweisung einer Person aus einer Messie-Wohnung, die so voll war, dass man nicht mehr zur Toilette konnte – da fragte ich mich, wie man so leben kann.

«Es braucht mehr Überwindung, in ein freundliches Gesicht zu schlagen als in ein unfreundliches.»

Bruno Crestani, Stadtammann

Als Stadtammann muss man eine klare Haltung haben. Ich bin als SP-Mitglied gewählt, und das soll man spüren. Klar, müssen wir ausstehende Gelder einfordern. Ich lege aber grossen Wert darauf, die Betroffenen mit Respekt zu behandeln. Entsprechend suchen wir unsere Mitarbeitenden aus. Das lohnt sich: Die meisten Schuldnerinnen und Schuldner begegnen uns bei Pfändungen mit Anstand. Ich sage immer: Es braucht mehr Überwindung, in ein freundliches Gesicht zu schlagen als in ein unfreundliches.

In meiner Zeit hier gab es denn auch nur eine Handvoll Fälle, in deren Verlauf jemand von uns tätlich angegriffen wurde. Apropos Pfändung: Das Klischee des Beamten, der Möbel oder Fernseher pfändet, stimmt schon lange nicht mehr. Möbel oder Elektronik sind heute zu wenig wert. Wenn jemand arbeitet, ist die Lohnpfändung das übliche Mittel, um Schulden abzuzahlen. Hier ist es mir wichtig, dass wir Augenmass bewahren und den Ermessensspielraum nutzen.

Bei der Berechnung des Existenzminimums für die Lohnpfändung erlauben die Vorgaben nämlich eine Spannbreite. Gerade bei Familien kann man so ein paar Franken mehr herausholen, was für diese Menschen viel ausmacht und schlussendlich auch zum sozialen Frieden beiträgt.

Anderes Umfeld, weniger Betreibungen

Seit meinem ersten Arbeitstag hat sich im Kreis 4 viel verändert: Zahlungskräftigere Leute verdrängen das Milieu mehr und mehr. Das spüren wir bei den Betreibungen: 2005 waren es 19'000, heute stehen wir bei 12'000. Gleich geblieben sind die Gründe für Schulden: Krankenkassen- und Steuerrechnungen. Die Miete hingegen bezahlen die Leute fast immer, denn sie wissen, dass sie sonst ausziehen müssen. Obwohl ich schon Zehntausende Fälle gesehen habe, ist es manchmal immer noch schwer vorstellbar, wie sich jemand fühlt, der grosse Schulden hat.

Trotzdem sollte man nicht überheblich sein, denn treffen kann es nach meiner Erfahrung jeden: das frisch geschiedene Paar mit geringem Einkommen und Kindern ebenso wie Leute, die einst über viel Geld verfügten. Damit möglichst wenige Leute in die Schulden rutschen, engagiere ich mich in der Prävention. Wir konnten eine eigene Präventionsstelle schaffen. Ich selbst besuche regelmässig Schulklassen, um zu erklären, wie Schulden entstehen und wie man sich davor schützt. Dieses Engagement ist wichtig, macht mir viel Freude und bildet eine schöne Abwechslung zum Berufsalltag.

Aufgezeichnet von Reto Westermann