Melanie Räber* zerriss wütend Mircos Geburtsurkunde. Wieso musste alles so kompliziert sein? Ihr Kind sollte denselben Nachnamen tragen wie sie, wie die ganze Familie. Eigentlich das Normalste der Welt. Nur: Melanie Räber ist eben nicht «normal» – zumindest nicht für die Welt der Behörden.

Melanie liebt Corinne. Seit sechs Jahren sind die 27-jährige Bibliothekarin und die 35-jährige Pflegefachfrau ein Paar. Vor drei Jahren haben sie ihre Partnerschaft eintragen lassen. Melanie hat dabei den Nachnamen von Corinne angenommen. Beide wollten eigene Kinder, und beide haben 2014 Kinder geboren, gezeugt mit Samen desselben Spenders. Corinnes Tochter Lisa heisst wie sie: Räber. Doch Melanies Sohn sollte als Einziger der Familie Wettstein* heissen. «Das stiftet doch überall nur Verwirrung», sagt Melanie Räber.

Die zerfetzte Urkunde musste sie neu machen lassen, dann eine Namensänderung beantragen und per Anwältin durchsetzen. Kosten: rund 2000 Franken. «Man gibt uns das Gefühl, dass wir keine richtige Familie sind.»

Zwei Mütter: «Mami» und «Mama»

Die Kinder ahnen davon nichts. In ihren Augen sind Räbers eine ganz normale Familie. Ihre Mütter nennen sie «Mami» und «Mama». Doch was, wenn einer der Frauen etwas zustösst?

Dann droht deren Kind ein doppelter Verlust, denn die Halbwaise ist ja nicht das leibliche Kind der anderen Mutter. Daher würde das Familiengericht entscheiden, ob es in der Familie bleiben kann oder in andere Obhut gegeben wird. Absurd, findet Melanie Räber: «Wäre eine von uns ein Mann, wäre das gar kein Thema. Wenn wir an einen konservativen Familienrichter geraten, haben wir Pech.»

Die beiden investierten deshalb erneut Geld und Zeit, um einen Vertrag auszuarbeiten. Dieser soll dafür sorgen, dass die Familie in jedem Fall zusammenbleiben kann. «Rein rechtlich kämen wir laut Anwältin damit aber wohl nicht durch», sagt Corinne Räber.

Die einfachste Lösung für beide wäre eine Adoption des jeweiligen Stiefkinds. Dann gilt auch die nicht leibliche Mutter vor dem Gesetz als Mutter. Doch Stiefkindadoption steht nur verheirateten Paaren offen. Das Parlament hat sich zwar dieses Jahr dafür ausgesprochen, dass auch Homosexuelle in eingetragener Partnerschaft Stiefkinder adoptieren können. Ein Komitee sammelt aber Unterschriften für ein Referendum, 50000 sollen bis zum 6. Oktober zusammenkommen.

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«Konservative sind nicht mehr so stark»

Dabei ist die Stiefkindadoption im Grunde ein Minischritt. Echte Gleichstellung hiesse, die Adoption ganz zu öffnen, so dass Schwule und Lesben auch fremde Kinder adoptieren könnten. Doch dafür scheint die Zeit noch nicht reif. «Die konservativen Kräfte sind nicht mehr so stark. Dennoch geht hierzulande alles nur scheibchenweise», sagt Kathrin Bertschy, Nationalrätin der Grünliberalen.

Ihre Fraktion hat 2013 eine parlamentarische Initiative eingereicht: «Ehe für alle», unabhängig von der sexuellen Orientierung. Doch selbst wenn sie angenommen würde, gäbe es wohl wieder Ausnahmen für gleichgeschlechtliche Paare. Denn der Status der Ehe bringt das Recht auf Adoption und Fortpflanzungsmedizin mit sich. Das dürfte schwierig durchzusetzen sein, und am Ende gäbe es wohl wieder nur eine Ehe für fast alle. Bertschy bleibt dennoch zuversichtlich: «Auch diese Fragen dürften bald mehrheitsfähig sein.»

«Wenn Recht und Realität zu weit auseinandergehen, halten sich die Leute halt nicht mehr ans Gesetz.»

Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Zürich

Die Fragen rund um die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare sind nur ein Bruchteil dessen, was sich momentan in der Familienpolitik tut (siehe «Familienrecht: Diese Änderungen werden diskutiert»). Grund für den Reformdruck: Viele Gesetze sind auf das traditionelle Familienmodell zugeschnitten. In der heutigen Wirklichkeit gibt es aber immer mehr unverheiratete Paare, ledige Eltern, Patchworkfamilien. Sie und ihre Kinder sind rechtlich in vielerlei Hinsicht schlecht abgesichert.

Das Parlament webt am Flickenteppich

Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Gesetzgebung der gesellschaftlichen Realität hinterherhinkt. «Ein gutes Gesetz sollte flexibel und in der Lage sein, Vorgänge in der Zukunft zu erfassen. Aber das ist natürlich gerade in schnell ändernden Bereichen schwierig», sagt Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. Das Problem der Leihmutterschaft etwa habe man bei der Entstehung des Zivilgesetzbuchs 1907 noch nicht voraussehen können.

Problematisch werde es, wenn Recht und Realität zu weit auseinanderdriften. «Die Leute halten sich dann einfach nicht mehr ans Gesetz. Das hat man etwa beim Konkubinatsverbot gesehen oder beim Abtreibungsverbot.» Letztlich seien allzu realitätsferne Gesetze schädlich fürs Vertrauen in die Rechtsordnung.

Der Bundesrat hat 2015 in einem Bericht zur Familienpolitik aufgezeigt, wo es Handlungsbedarf gäbe, die Initiative aber dem Parlament übertragen. Das Resultat ist ein riesiger Flickenteppich, an dem nun alle zugleich weben. «Ein Wirrwarr», findet SVP-Nationalrätin Verena Herzog. Am liebsten zöge sie die Notbremse. «Das Kindswohl steht leider hintan. Der Erwachsene will weniger Verpflichtung und fordert mehr Rechtssicherheit vom Staat. Beliebigkeit und unsichere Verhältnisse sind aber nicht förderlich für die Gesellschaft», sagt die konservative Thurgauer Familienpolitikerin.

Auf der Seite der Reformer stehen Liberale wie FDP-Ständerat Andrea Caroni. Er regte etwa in einem Postulat an, die Einführung eines «pacte civil de solidarité» (Pacs) nach französischem Vorbild zu prüfen. Der Pacs ist eine Art abgespeckte Ehe und garantiert gewisse gesetzliche Sicherheiten.

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Noch ist aber völlig unklar, was ein solches Modell nach Schweizer Art enthalten soll. Denkbar wären Erbansprüche, Hinterlassenenrenten oder Splitting der Pensionskasse für Pacs-Paare. Fast sicher hinein gehört laut Caroni eine gegenseitige Unterstützungspflicht während der Beziehung.

Vor allem brächte der Pacs aber die rechtliche Anerkennung als Paar. «Man erhielte medizinische Auskunft, wenn der Partner im Spital liegt und sich nicht äussern kann. Man müsste sich auch nicht mehr dauernd gegenseitige Vollmachten erteilen, etwa um ein Paket bei der Post abzuholen», sagt Caroni. Klar ist für den Appenzeller Politiker auch, dass der Pacs allen offenstehen soll, auch Homosexuellen. «Am Ende sollte es meiner Meinung nach nur noch die Ehe für alle und den Pacs geben.»

Auch verheiratete Paare kämpfen

Selbst für Verheiratete sind die geltenden Gesetze oft nicht mehr zeitgemäss. Das erlebte Ria Eugster aus Hombrechtikon ZH. Die 57-Jährige und ihr Mann Peter hatten unzählige Termine bei Anwälten, um die Aufteilung des Erbes unter den Kindern zu regeln. «Es war alles wahnsinnig kompliziert.» Dabei war das Anliegen der Eugsters simpel: Alle fünf Töchter sollten einmal gleich viel erben.

Bei fünf leiblichen Kindern wäre das selbstverständlich. Doch die Eugsters waren beide schon einmal verheiratet, bevor sie sich vor 20 Jahren trafen. Peter Eugster brachte drei Kinder mit in die neue Ehe, Ria Eugster zwei. Das Paar möchte nun, dass beim Tod der überlebende Ehepartner alles erbt und erst nach dessen Tod die Kinder zum Zuge kommen.

Aber: Falls der 66-jährige Peter Eugster zuerst stirbt, wären seine leiblichen Kinder nach dem Tod von Ria Eugster letztlich benachteiligt. Denn falls nichts anderes geregelt wird, würden seine eigenen Kinder zuerst nur einen Viertel des Vermögens erben, den Rest die überlebende Ehefrau. Nach ihrem Tod ginge das verbliebene Vermögen dann an ihre Kinder – und Peter Eugsters Kinder gingen leer aus, weil sie «nur» die Stiefkinder der Erblasserin sind. Das macht die Eugsters hässig: «Das aktuelle Erbrecht ist total antiquiert. Man müsste einfach frei verfügen können über sein Erbe.»

Familienrecht: Diese Änderungen werden diskutiert

Erbrecht
Der Bundesrat will die gesetzlichen Pflichtteile senken. Kindern des Erblassers soll statt drei Vierteln noch die Hälfte des Erbanspruchs sicher sein, Ehepartnern ein Viertel statt der Hälfte. Die Pflichtteile der Eltern würden gestrichen. Der Erblasser könnte so anderen mehr vermachen, etwa einer nicht mit ihm verheirateten neuen Partnerin oder den Enkeln. Neu wäre auch: Eine nicht mit dem Erblasser verheiratete Lebenspartnerin könnte Unterhalt fordern, wenn sie ihn etwa gepflegt und daher auf ein Erwerbseinkommen verzichtet hat.

Die meisten Parteien befürworten die Vorschläge im Grundsatz. Die SVP lehnt die Revision ab. 

Stiefkindadoption
National- und Ständerat wollen die Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare in eingetragener Partnerschaft und für Unverheiratete ermöglichen, die seit mindestens drei Jahren zusammenleben.

«Ehe für alle»
Diese parlamentarische Initiative der Grünliberalen will die Ehe gleichgeschlechtlichen Paaren öffnen. Sie liegt bei der nationalrätlichen Rechtskommission.

«Pacs»
Im Rahmen eines Postulats prüft der Bundesrat ein eheähnliches Institut, das Paaren gewisse Sicherheiten bietet, wenn sie seit längerem zusammenleben – damit weniger Vollmachten und Verträge zur Absicherung nötig sind.

Man konzentriert sich auf das politisch Machbare

Der Bundesrat sieht das auch so – aber wiederum nur ein bisschen. Er will die vorgeschriebenen Pflichtteile senken. Der Erblasser könnte dann zwar freier über das restliche Vermögen bestimmen. Aber um die Pflichtteile käme er nicht herum. Eine Gleichstellung von Ehe- und Konkubinatspaaren ist im Gesetzesentwurf ebenso wenig vorgesehen. Man konzentriert sich auf das politisch Machbare.

Auf das Machbare mussten sich auch die Eugsters beschränken. Sie haben mit einem Spezialanwalt einen mehrseitigen Vertrag zur gleichmässigen Erbteilung erarbeitet. «Die Kinder mussten aber volljährig sein und einen Erbverzicht unterschreiben.»

Patchwork-Eltern mit kleinen Kindern müssen hingegen weiter mit der unbefriedigenden Situation leben. Es sei denn, die Politik würde sich ganz unschweizerisch zu einer radikaleren Lösung durchringen. Doch wenn die einen auf die Bremse stehen und die anderen aufs Gas drücken, wird es wohl im Schneckentempo weitergehen.n