Um 16.05 Uhr hätte die 31-jährige Sabrina Natale* am Bahnhof Kloten ankommen sollen. Doch der Taxichauffeur wartet vergebens. Ihre Mutter, Carmela Natale*, eilt selber an den Bahnhof, in Finken und ohne Jacke. Doch sie findet sie nicht.

Bald ist es 20 Uhr. Seit zwei Stunden sucht auch die Polizei nach der Tochter. Im Kopf der Mutter jagen sich Horrorszenarien. Warum nur meldet sich niemand? Die Tochter hat doch alles dabei: ID, Behindertenausweis, Swiss Pass und mehrere Karten mit Telefonnummern, die man im Notfall kontaktieren soll. Doch niemand ruft an.

Sabrina Natale leidet an infantilem Autismus. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, kann sich nicht verständlich ausdrücken. Sechs Monate hatte es gedauert, bis ihr die Betreuerin der Wohngruppe beigebracht hatte, allein Zug zu fahren. Dutzende Male hatte sie sie begleitet. Erst seit wenigen Wochen schaffte Sabrina Natale den Weg zu ihrer Therapeutin in Stäfa ZH ohne Hilfe. Ein grosser Schritt für sie.

Um 21 Uhr will Carmela Natale Jacke und Schuhe holen. Als sie zu Hause ankommt, steht die Tochter vor der Tür des Wohnblocks – völlig verstört. Wie sie dorthin gekommen ist, wird nie klar. Die Nacht verbringt die Tochter bei der Mutter im Bett. Sie, die man sonst kaum berühren darf.

Das Billett ging vergessen

Nach zwei Tagen entdeckt eine Betreuerin in der Jackentasche von Sabrina Natale eine Busse der SBB, «Reise ohne gültigen Fahrausweis», ausgestellt am Bahnhof Zürich Stadelhofen. Auf dem Papier steht die Adresse der Aussenwohngruppe der Stiftung Pigna in Bülach. Später wird klar, dass die dortige Praktikantin vergessen hatte, Sabrina Natale ein Billett mitzugeben.

Die Betreuerin ruft beim Kundendienst der SBB an, will wissen, was geschehen ist. Hat man Sabrina Natale im Bahnhof Stadelhofen einfach stehenlassen? «Ich bekam keine Auskunft, weil ich nicht mit Sabrina verwandt bin.» Immerhin senkte man nach längerem Hin und Her die Busse auf 40 Franken. Später erliess man sie wegen offensichtlicher Schuldunfähigkeit. Auch Sabrinas Mutter schrieb an die SBB. Man gab ihr zur Antwort, dass man nicht helfen könne. «Der Kontrolleur teilt mit, dass er keine Erinnerung an den Vorgang hat.»

«Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes» konnte SBB-Sprecher Reto Schärli dem Beobachter zum konkreten Fall keine Auskunft geben. In S-Bahnen gebe es nur Stichkontrollen, die schnell gehen müssten und bei denen mehrere Mitarbeitende im Einsatz sind. Reisende würden nur aus dem Zug geführt, wenn weitere Abklärungen nötig seien. Ob das im vorliegenden Fall geschehen sei, lasse sich nicht mehr rekonstruieren. Der Kundendienst sagte Natale, die Daten seien bereits gelöscht, «daher können wir nicht Stellung nehmen».

 

«Das grösste Problem ist: Das Personal hat keine Zeit mehr.»

Martina Tomaschett, Vorstandsmitglied der Behindertenkonferenz Graubünden

 

Reisezugbegleiter lernen den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Das Hauptaugenmerk liege dabei auf körperlichen Behinderungen, man spreche aber auch über geistige Behinderungen, sagt der SBB-Sprecher weiter. Es gebe aber keine Vorgabe, Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht aus dem Zug zu nehmen. Er verweist auf den Behindertenausweis, der es erlaubt, kostenlos eine Begleitperson mitzunehmen.

«Das ist nicht die richtige Antwort», sagt Daniel Meier, Geschäftsführer der Stiftung Pigna. Menschen mit Behinderung bräuchten zwar so viel Schutz wie nötig – aber auch so viel Autonomie wie möglich. Dem stimmt Martina Tomaschett zu, sie ist Vorstandsmitglied der Behindertenkonferenz Graubünden. «Auch für Menschen mit Handicap ist es wichtig, sich selbständig bewegen zu können.» Das oberste Gebot sei eine achtsame Kommunikation. Genauso wichtig sei, dass man niemanden vom eingeübten Weg abbringe – und geduldig bleibe. «Das ist aber das grösste Problem: Das Personal hat keine Zeit mehr», sagt Tomaschett.

Sensibilisiertes Personal gesucht

Das Gesetz zur Gleichstellung von Behinderten schreibt eigentlich vor, dass Menschen mit Behinderungen oder altersbedingten Einschränkungen dasselbe Recht auf autonome Mobilität haben wie nicht eingeschränkte Personen. «Diese Vorschrift ist zu schwammig», kritisiert Sabrina Salupo, Leiterin Bildung und Sensibilisierung des Interessenverbands Procap. Es genüge nicht, dass man Züge und Busse so baue, dass alle sie betreten können. Gerade Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung seien auf sensibilisiertes Personal angewiesen. «Hier bestehen grosse Bildungslücken.»

Für ihre Tochter hat Carmela Natale einen Weg gefunden. Sie hat ihr einen Badge mit Telefonnummern gebastelt, den die Autistin um den Hals trägt, wenn sie im Zug unterwegs ist. Seit kurzem traut sie sich das wieder zu. Was sie in den fünf Stunden, in denen sie verschwunden war, so verängstigt hat, wird sie wohl nie erzählen.

 

*Name geändert

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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