Wenn sich der Staub auf der Strasse gelegt hat, ist es Zeit, einen Plan zu machen und die Regeln für das Leben an einem neuen Ort festzulegen. Vom besonderen Schutzstatus S erfuhren wir gleich nach unserer Ankunft in Winterthur. 

Damals gab es nur wenige Informationen darüber, und diese Lücken wurden wie üblich mit Gerüchten und «persönlichen Erfahrungen» in den sozialen Medien gefüllt. Ich weinte, als ich las, dass man seinen Pass abgeben müsse, dass man seinen Verwandten weggenommen und in einem Lager untergebracht werde, dass man kein Recht habe, das Land zu verlassen, und so weiter. Ich weinte noch mehr, als mir klar wurde: Die Aufenthaltsbewilligung hier macht unsere Flucht definitiv real.

Von klein auf wird einem in der Ukraine beigebracht, dass man seinen Pass nie jemandem geben darf. Für die meisten von uns war er das einzige wichtige Ding, das wir mit über die Grenze nahmen. Der Ausweis, die Zugehörigkeit, der Papierbeweis unserer Existenz. Nun mussten wir im Chaos der Informationen bei den offiziellen Stellen anrufen und unsere Ängste eine nach der anderen ausräumen.

Der Bruder wird zum Sohn

Man sagt, dass die Schweizer ziemlich gut in Bürokratie sind. Nicht die beste Art, das Land kennenzulernen, aber wohl die schnellste. Online-Anmeldung für den Status S, eine weitere Woche warten, eine Einladung, persönlich zu erscheinen. Es war der 1. April. Niemand machte Witze, ausser der Migrationsdienst, der meinen elfjährigen Bruder als meinen Sohn registrierte (ich bin seit Ende Februar enorm gealtert, also kann ich es ihnen nicht verübeln). Zum Glück wurde der Fehler rechtzeitig bemerkt. Man sagt uns, wir sollten noch zwei Wochen auf ein Genehmigungsschreiben warten.

Nun tragen wir das neue Stück Papier zusammen mit dem Reisepass überall mit uns herum. Dann ging es zur Gemeinde, um die Adresse anzumelden. Denn mein Bruder muss eine Schule hier besuchen, obwohl er derzeit online an einer ukrainischen Schule lernt. Er weigert sich, Deutsch zu lernen, und sagt: Wozu die Mühe? Wir fahren bald nach Hause. Bald – sagen wir ihm das nicht auch?

Er macht sich Sorgen wegen der Sommerferien und dass er lernen muss, wenn wir bleiben. Die Schulferien in der Ukraine sind ganz anders als in der Schweiz – im Sommer sind fast drei Monate schulfrei. Zudem haben wir keine Osterferien, und in diesem Jahr wurdebei uns sogar der Karfreitag zum Arbeitstag erklärt. Keine Ferien in Kriegszeiten.

An den Schokoladeneiern und Hasen in Schweizer Geschäften kommt man mit einem Kind nicht vorbei. In der Ukraine spielen diese Rolle Weidenzweige in den Eimern der Strassenhändler, die nach einer alten Tradition die Reinigung der Seele symbolisieren sollen. Definitiv nichts, wonach Kinder suchen würden. 

Am schlimmsten war es, an den Feiertagen allein zu sein. Die Grossmutter, die in Kiew geblieben ist, beklagt sich, dass sie niemanden hat, für den sie ein Festessen kochen kann. Aber sie backt trotzdem einen Kuchen. Für uns. Wir haben uns seit zwei Monaten nicht gesehen.

Minen überall

Wir stehen jeden Tag in Kontakt mit Kiew. Mein Vater, ebenfalls dort geblieben, ist optimistisch wie immer. Aber am Ende jedes Gesprächs sagt er streng: Es ist zu früh, um zurückzukommen. Die Minenräumer säubern die Aussenbezirke, aber noch immer werden jeden Tag Menschen durch Minen verletzt. 

Papa lächelt verbittert auf den Zoom-Bildschirm – kein Pilzesammeln mehr. In der Tat werden wir die Strassen rund um Kiew in den nächsten Jahren nicht mehr verlassen können. Ich frage mich, wie viele andere alltägliche Dinge den Status «nicht mehr» erhalten werden.«Die Aufenthaltsbewilligung hier macht unsere Flucht definitiv real.»

Kateryna Potapenko, 28, ist aus Kiew nach Winterthur zu Verwandten geflüchtet. Sie ist Literaturredaktorin beim Online-Magazin «Cedra» in Kiew. Für den Beobachter erzählt sie von ihrem Leben als Geflüchtete in der Schweiz.

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Zur Person

Kateryna Potapenko

Kateryna Potapenko, 28, ist aus Kiew nach Winterthur zu Verwandten geflüchtet. Sie ist Literaturredaktorin beim Online-Magazin «Cedra» in Kiew und spricht Audiobücher auf Ukrainisch ein. Für den Beobachter erzählt sie in der Serie «Tagebuch einer Flucht» über ihr Leben als Geflüchtete in der Schweiz.

Quelle: private Aufnahme
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