Der Sommer 2018 war der Jahrhundertsommer schlechthin. Heiss, trocken. Man ging so oft baden wie noch nie. Doch für Jonas Pfister*, Milchtechnologie-Lehrling aus Worb BE, war alles anders. Sein Sommer endete, bevor er richtig begann. Die Folgen spürt er heute noch.

Am 30. Juni, einem Samstag – die Sonne stand schon tief –, stieg der kräftige junge Mann mit zwei Kollegen oberhalb von Bern in die Aare. Sie liessen sich flussabwärts treiben, das Wasser war angenehm kühl, die Strömung stark. An einer Ausstiegsstelle zwischen Eichholz und Marzili wollten die drei ans Ufer gehen. Doch Pfister, damals 17, verpasste den Ausstieg.

Er versuchte, etwas weiter unten an Land zu kommen. An der Anlegestelle waren zwei Boote, Jonas Pfister wollte beim Schwimmerausstieg unmittelbar davor aus dem Wasser steigen. Er hielt sich am Geländer fest, wurde aber weggerissen und unter eines der Boote gezogen. Kurz darauf hörte er einen Motor. Er versuchte wegzukommen. Dann sah er nur noch, wie sich das Wasser um ihn herum rot färbte.

Seine linke Hand war in die Motorschraube geraten. «Schmerzen spürte ich zu dem Zeitpunkt keine», sagt er. Einhändig schwamm er ans Ufer. «Mir wurde sofort geholfen. Jemand rief die Ambulanz, eine zufällig anwesende Ärztin leistete Erste Hilfe Erste Hilfe Leben retten – so reagieren Sie richtig .» Mehrere Sehnen und Nerven waren gerissen – und die Pulsschlagader durchtrennt.

Gefühllose Finger

Für Jonas Pfister war der Jahrhundertsommer gelaufen. Statt Schwimmen standen eine dreistündige Operation, Bettruhe, dann viele Stunden Physio- und Ergotherapie auf dem Programm. Etwa zwei Monate lang konnte er nur zu 50 Prozent arbeiten. Bis heute hat er Mühe mit der Feinmotorik. Die Griffkraft ist nicht vollständig zurück, in den Fingern hat er kein Gefühl mehr für Kälte, Wärme, Schmerzen .

Die Kosten übernahmen die Versicherungen. Rechtlich zur Rechenschaft gezogen wird aber niemand. Warum? Jonas Pfister konnte den Bootsführer nicht anklagen – wegen eines Missverständnisses, zu dem es ausgerechnet auf der Polizeiwache kam.

Etwa eine Woche nach dem Unglück wurde Jonas Pfister zur Einvernahme auf den Posten gebeten. Da er noch minderjährig war, begleitete ihn seine Mutter, Sibylle Pfister*. Der Polizist legte Mutter und Sohn, wie in solchen Fällen üblich, ein Formular zur Erklärung der Privatklägerschaft vor.
 

«Uns wurde gesagt, Jonas habe keine Chance als Kläger, er sei mitschuldig.»

Sibylle Pfister*, Mutter des Opfers


Grundsätzlich ermittelt bei einem solchen Unfall automatisch die Staatsanwaltschaft; in diesem Fall wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung. Opfer können als Strafkläger auftreten. Dadurch bekommen sie im Verfahren eine ähnliche Stellung wie die Staatsanwaltschaft – sie tragen aber auch ein Kostenrisiko für den Fall, dass sie verlieren. Wer per Formular auf die Privatklägerschaft verzichtet, umgeht dies, hat aber keine Möglichkeit mehr, das Strafverfahren zu beeinflussen.

Die Mutter verzichtete auf die Privatklägerschaft, im Glauben, das Richtige zu tun. «Uns wurde gesagt, Jonas habe sowieso keine Chance als Kläger, da ihn eine Mitschuld treffe, weil Schwimmer sich Booten nicht nähern dürften», sagt Sibylle Pfister. Der Polizist jedoch bestritt diese Aussage in einem später eingeforderten Wahrnehmungsbericht. Er habe nicht zum Verzicht geraten und nie gesagt, eine Klage wäre chancenlos.

Wie es zur Verzichtserklärung kam, ist umstritten. Fakt ist: Die Berner Staatsanwaltschaft nahm das Verfahren nicht an die Hand, und Pfister hatte keine Möglichkeit mehr, dagegen Beschwerde zu erheben.

Fest steht auch: Zum Zeitpunkt der Einvernahme war nicht klar, dass das motorisierte Boot an jenem Tag dort gar nicht hätte sein dürfen. Es handelte sich um ein Übersetzboot der Armee. Eingesetzt war es vom Aare Club Matte Bern, der im «Tych» weiter flussabwärts das sogenannte Schifferstechen durchführte. Der Bootsführer war mit zwei Kollegen unterwegs und wollte einen Weidling an der Anlegestelle vertäuen, an der es zum Unfall kam.

Die Aare ist in diesem Bereich für jeglichen motorisierten Verkehr gesperrt – ausser für Boote der Polizei Recht Was darf die Polizei? , der Rettungsdienste, der Fischereiaufsicht und der Armee. Der Club hatte die nötige Bewilligung zwar eingeholt, allerdings nicht für den fraglichen Abschnitt.

Verletzte Sorgfaltspflicht

Die Staatsanwaltschaft war zum Schluss gekommen, dass dies wohl ein Versehen war. Der Bootsführer habe davon ausgehen können, er dürfe die Aare dort befahren. Die Staatsanwaltschaft erliess zwar einen Strafbefehl, weil der Verantwortliche seine Kollegen nicht angewiesen hatte, nach Schwimmern Ausschau zu halten. Damit habe er seine Sorgfaltspflichten verletzt. Der Unfall aber hätte sich nicht vermeiden lassen, weil es schon am Eindunkeln und die Strömung sehr stark war. Man hätte den Schwimmer also nicht rechtzeitig erkennen können.

Jonas Pfister ist anderer Meinung: «Es hatte an diesem Tag sehr viele Schwimmer in der Aare, auch Kinder. Man hätte einfach nicht mit einem Motorboot da durchfahren dürfen.»

«Im Nachhinein wäre das sicher besser gewesen»

Der Aare Club Matte Bern bedauert den Unfall. So etwas sei in der Geschichte des Vereins noch nie passiert, sagt Präsident Martin Seiler. Man habe alle nötigen Bewilligungen eingeholt. Der Bootsführer habe von ihm persönlich den Auftrag erhalten, insgesamt vier Weidlinge zum Clubhaus des Pontonierfahrvereins Bern zu bringen. Für diesen Bereich lag eine Bewilligung vor. «Dass er den einen Weidling des Wasserfahrvereins Freiheit bis zu dessen Heimats-Bootsanlegestelle weiter flussaufwärts zur Unfallstelle bringen soll, habe ich nicht in Auftrag gegeben. Das hat der Bootsführer entschieden.»

Ein reines Versehen, wie die Staatsanwaltschaft befand, war die fehlende Bewilligung also kaum. Ob dies dem Bootsführer bewusst war und warum er weiter flussaufwärts fuhr, hätte sich in einem Strafprozess Strafprozessordnung Was für Beschuldigte und Opfer gilt klären lassen – wäre da nicht dieses Verzichtsformular.

Die Kantonspolizei Bern nimmt zum Fall nicht Stellung. Laut Sprecher Christoph Gnägi unterschreiben die meisten das Formular direkt vor Ort, dies sei aber nicht Pflicht. Man könne sich auch Bedenkzeit nehmen und sich juristisch beraten lassen.

«Im Nachhinein wäre das sicher besser gewesen», sagt Sibylle Pfister, die Mutter des Verunfallten. Sie hoffe nur, dass alle Beteiligten ihre Lehren aus dem Unfall gezogen hätten und dass so etwas nie mehr passiert.


* Name geändert

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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