Rund 300 Strafbefehle erlässt die Bundesanwaltschaft jedes Jahr. Wer einen bekommt, wird damit einer Straftat schuldig gesprochen und zu einer Strafe verurteilt. Das Problem: Nur jede zehnte beschuldigte Person wird vorher überhaupt angehört. Das zeigt eine Untersuchung der unabhängigen Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft. Sie kritisiert die Praxis in ihrem Bericht scharf.

«Beim Strafrecht sollten sich die Beschuldigten äussern können», sagt Vizepräsident Marc Thommen, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, auf Anfrage. Die Aufsichtsbehörde bestätigt damit den Beobachter – er kritisiert seit längerem die Art und Weise, wie Staatsanwaltschaften mit dem Instrument des Strafbefehls umgehen.

«Fiktive Zustellungen»

Im Strafverfahren sind Staatsanwälte oft Ankläger und Richter in einer Person. Sie können nach dem Abschluss ihrer Untersuchungen selbst ein Urteil sprechen und eine Strafe festlegen. Jedenfalls dann, wenn weniger als sechs Monate Freiheitsstrafe drohen. Anklage, Urteil und Strafmass werden per Brief versandt. Wenn die Beschuldigten keine Einsprache erheben, kommt die Sache nie vor ein Gericht. Dadurch soll die Justiz entlastet werden. Das Verfahren gilt dann als abgeschlossen, und das Urteil wird rechtskräftig. Rund 92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden heute in der Schweiz mit Strafbefehlen abgeurteilt.

Wie der Beobachter aufgezeigt hat, kommt es dabei immer wieder zu Pannen. Und es werden grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Ein Mann sass 75 Tage in einem Basler Gefängnis, ohne dass er wusste, warum . Ein Urteil hat er nie gesehen, denn der Strafbefehl wurde ihm als «fiktive Zustellung» zugesandt. Gemäss aktueller Strafprozessordnung gilt ein Strafbefehl nämlich «auch ohne Veröffentlichung als zugestellt», wenn er nicht persönlich oder per Post gegen Unterschrift übergeben werden kann.

Der Beobachter vergibt seit diesem Jahr die Negativauszeichnung «Fehlbefehl des Jahres» Gratulation zu dieser Fehlleistung Der Beobachter kürt den schludrigsten Strafbefehl des Jahres . Damit macht er darauf aufmerksam, wie inhaltlich schlecht und ungenau Strafbefehle oft ausgestellt werden. Und dass sie kaum einer Kontrolle unterstehen.

Bundesanwälte wehren sich

Bundesanwälte befassen sich in erster Linie mit schweren Straftaten wie organisiertem Verbrechen oder Terrorismus. Aber auch bei Gewalt gegen Bundesangestellte, Missbrauch von Sprengstoff oder im Wirtschaftsstrafrecht sind sie zuständig. Bei weniger gravierenden Fällen, etwa wenn jemand eine Angestellte beleidigt oder einen öffentlichen Abfalleimer in die Luft sprengt, erlassen sie Strafbefehle. Aber auch bei Delikten wie Korruption.

Die Kritik der Aufsichtsbehörde weist die Bundesanwaltschaft zurück. Sie berücksichtige stets die gesetzlichen Vorgaben, wenn sie einen Strafbefehl erlasse, schreibt sie auf Anfrage der SRF-Radiosendung «Echo der Zeit». Häufig gehe sie sogar über die Vorgaben hinaus und nehme Einvernahmen vor, auch wenn das nicht verlangt werde.

In rund 270 Fällen pro Jahr macht sie das allerdings nicht, hält der Bericht fest. Dabei seien Anhörungen wichtig, um ein gerechtes Strafmass festlegen zu können, sagt Strafrechtsprofessor Marc Thommen. «Strafen müssen den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten angepasst werden. Dazu ist er zu befragen, und man muss ihn anhören.»

Dazu wird die Staatsanwaltschaft des Bundes künftig verpflichtet. Das Parlament hat das Gesetz vor einem Jahr angepasst. Ab 2024 muss die Bundesanwaltschaft alle Personen anhören, die sie zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilen will. Für Strafrechtler Thommen ein Schritt in die richtige Richtung. Die Aufsichtsbehörde möchte allerdings gern weiter gehen. «Wir empfehlen, dass auch bei Strafen ab 120 Tagessätzen, Geldstrafen und bedingten Freiheitsstrafen die Beschuldigten zwingend angehört werden müssen, bevor ein Strafbefehl erlassen wird.»
 

Kritik auch an Dossierverwaltung, Tempo und Zuständigkeit
  • Neben den seltenen Einvernahmen bei Strafbefehlen kritisiert die Aufsichtsbehörde in ihrer ordentlichen Inspektion 2022 weitere Punkte:
  • Die Dossierverwaltung sei lückenhaft und veraltet. Die Bundesanwaltschaft erhebe nicht systematisch, welche Straftaten sie verfolge. Ein neues Fallverwaltungssystem wird derzeit eingeführt.
  • Die Anzahl der erledigten Fälle, die von der Aufsichtsbehörde erhoben wurde, stimmt nicht mit den Zahlen in den Jahresberichten der Bundesanwaltschaft überein. Die Zahl wurde inzwischen korrigiert.
  • Mehr als die Hälfte der Verfahren im Wirtschaftsstrafrecht dauern mehr als drei Jahre.
  • Die Bundesanwaltschaft befasse sich zu oft mit niederschwelliger Kriminalität. Ihre Hauptaufgabe sei die Bekämpfung von schwerer Kriminalität in den Bereichen Staatsschutz, organisiertes Verbrechen, Terrorismus und Wirtschaftskriminalität. Die Aufsichtsbehörde legt nahe, den Zuständigkeitskatalog der Bundesanwaltschaft zu überprüfen.