Verschenkt die Schweiz mutwillig sensible Daten der Bevölkerung an amerikanische und chinesische Konzerne? Im Herbst 2022 wurde vom Parlament ein neues Jugendschutzgesetz beschlossen. Künftig sollen Video- oder Spielplattformen wie Netflix, Youtube, Twitch oder Pornhub das Alter ihrer Nutzer überprüfen. Befürworterinnen des neuen Gesetzes sehen darin einen wichtigen Schritt in Richtung Jugendschutz. Datenschutzexperten und Aktivistinnen warnen dagegen, dass grosse Konzerne gratis an wertvolle biometrische Daten kommen. Denn die Altersüberprüfung sei derzeit nur mit einem Ausweis möglich. Und die Unternehmen könnten die Daten problemlos speichern und weiterverwenden. 

Darum gehts
  • Die Schweiz hat ein neues Gesetz verabschiedet, um Minderjährige vor pornografischen und gewalttätigen Inhalten im Netz zu schützen.
     
  • Künftig sollen alle kommerziellen Plattformanbieter von Videos und Spielen das Alter ihrer Nutzerinnen und Nutzer kontrollieren. 
     
  • Gegner des Gesetzes warnen vor enormen Datenschutzproblemen und bezweifeln die Wirkung des Gesetzes. 
     
  • Der Datenschutzexperte Martin Steiger positioniert sich im Interview klar gegen das neue Jugendschutzgesetz. Demnach bekommen Plattformen staatlich garantierte Daten der Schweizer Bevölkerung quasi geschenkt. Und das Ziel werde klar verfehlt. 

Herr Steiger, alle Menschen in der Schweiz müssen künftig ihr Alter kontrollieren lassen, bevor sie eine Plattform wie Netflix nutzen – und das ungeachtet der Inhalte. Warum beschränkt sich die Ausweispflicht nicht nur auf gewalttätiges oder pornografisches Material? 
Das verstehe ich nicht. Es entspricht auch nicht dem Vorbild der europäischen Regulierung. Mir scheint, dass man hier – aus für mich unklaren Gründen – deutlich über das Ziel hinausschiesst. 
 

Um welche Plattformen handelt es sich eigentlich?
Fast alle Plattformen, wo man Videos schauen oder Spiele abrufen kann, fallen unter die gesetzliche Regulierung. Unter anderem Netflix, Youtube, Tiktok, Instagram, Twitch und natürlich auch Websites mit pornografischen Inhalten. Bedingung ist, dass die Plattform wirtschaftlich aktiv ist. Aber das ist bereits gegeben, wenn sich die Plattform über Werbung finanziert.

Zur Person

Martin Steiger ist Anwalt für Recht im digitalen Raum und ehrenamtlicher Sprecher der Digitalen Gesellschaft. Er positioniert sich klar gegen Alterskontrollen für jede Nutzung von Spiel- und Videoplattformen im Internet.

Gibt es Ausnahmen vom System?
Videos oder Spiele der öffentlich-rechtlichen Medien der Schweiz, redaktionelle Inhalte und Werbung fallen nicht darunter. Ausgenommen sind beispielsweise die Videoplattformen Blick TV von Ringier und Play SRF der SRG. Das neue Gesetz hat durchaus Vorteile für die etablierten Medienkonzerne.


Warum wurden diese Ausnahmen gemacht? 
Die Kommunikations- und Medienbranche verfügt über eine starke Lobby – man hat sich vermutlich dafür eingesetzt, nicht zusätzlich reguliert zu werden. Das bestehende Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG) bietet bereits einen gewissen Jugendschutz, aber ohne Ausweiskontrollen.


Welche Daten würde man bei der Ausweispflicht preisgeben? 
Wir können unseren eigenen amtlichen Ausweis zur Hand nehmen und draufschauen. Diese Daten werden übermittelt. Inklusive Passbild als biometrisches Datum. Im Moment kann man die geforderte Alterskontrolle nur mit einem amtlichen Ausweis vornehmen. Das kennt man aus dem Alltag. Beim Alkoholkauf oder beim Kinobesuch muss man allenfalls an der Kasse den Ausweis zeigen. Aber die Daten werden nicht kopiert. Digital sind dagegen alle Daten, die man zeigt, erst einmal zur weiteren Nutzung vorhanden.


Aber die Konzerne dürfen die Daten nicht speichern?
Im Gesetz steht, dass die Daten von Minderjährigen nur für die Alterskontrolle verwendet werden dürfen. Das ist aber schwierig zu überprüfen. Und die Daten von Erwachsenen dürfen die Unternehmen im Umkehrschluss frei nutzen. 

«Ausländische Unternehmen müssen die Regulierungen der Schweiz nicht übernehmen.»

Warum?
Das verstehe ich auch nicht. Möglicherweise wollte man den Plattformen einen Anreiz geben, die Regulierung durchzusetzen. Denn die neuen Alterskontrollen sind mit Kosten verbunden, die mit wertvollen Daten aufgewogen werden könnten. 
 

Müssen die Unternehmen die Ausweispflicht also gar nicht umsetzen? 
Die wichtigsten Plattformen kommen aus den USA und China. Ausländische Unternehmen müssen die Regulierungen der Schweiz nicht übernehmen, da die Möglichkeit für Bussen an den Landesgrenzen endet. Die grossen Plattformen halten sich aber normalerweise an solche Regulierungen in einzelnen Märkten. Google, Meta, Netflix, Tiktok und weitere grosse Plattformen werden vermutlich Alterskontrollen einführen. Nicht aber sonstige Plattformen, wo der Jugendschutz besonders wichtig wäre, etwa Websites mit pornografischen Inhalten. Da wird es keine Alterskontrollen geben, und man wird weiterhin nur anklicken müssen, ob man über 18 ist oder nicht. Das ist keine wirksame Alterskontrolle. 


Also schiesst das Gesetz Ihrer Meinung nach am Ziel vorbei. 
Wir sehen einmal mehr das ungelöste Problem von Regulierungen im digitalen Raum. Die Anbieter sitzen meist im Ausland. Da kann die Schweiz noch so viel regulieren, es kommt dort nicht an. Für eine wirksame Regulierung müsste man international zusammenarbeiten. Wieso sollten Anbieter, die kein Interesse haben, das Schweizer Recht anzuwenden, sich daran halten, wenn keine Sanktionen drohen? Wir kennen das auch aus anderen Bereichen. Bei Online-Casinos etwa halten sich ausländische Anbieter häufig nicht an das Schweizer Geldspielrecht. 

«Betrugsmaschen haben mit zuverlässigen Personendaten mehr Aussicht auf Erfolg.»

Wenn immer mehr Plattformen schützenswerte Daten der Bevölkerung erhalten, steigt das Risiko von Datenklau. 
Es geht ohne Zweifel um attraktive Daten. Datenlecks können immer auftreten. Linkedin, Meta und Twitter hatten alle grosse Datenlecks in letzter Zeit. Und gerade Ausweisdaten sind brisant. Denn es handelt sich um die eigene Identität und nicht nur um eine E-Mail-Adresse. Namen, Geburtsdatum und Gesicht können nicht einfach gewechselt werden.


Was würde mit den gestohlenen Daten geschehen? 
Cyberkriminalität könnte einen weiteren Aufschwung erleben. Kryptobetrug, Phishing-E-Mails und andere Betrugsmaschen haben mit zuverlässigen Personendaten mehr Aussicht auf Erfolg.


Nun ist das Jugendschutzgesetz im Herbst mit einer grossen Mehrheit durchgewinkt worden. Warum wird es erst jetzt kritisiert? 
Niemand ist gegen Jugendschutz. Den Schutz von Kindern und Jugendlichen finden fast alle sinnvoll und wichtig. Vielleicht haben deswegen selbst digital versierte Politiker den Gesetzestext nicht richtig gelesen oder auf ihre Kolleginnen im Parlament vertraut. Sie sind wohl davon ausgegangen, dass eine Ausweispflicht nicht wirklich kommen wird. 
Man darf auch nicht vergessen, dass es eine Flut an Gesetzesvorlagen im Digitalbereich gibt. Milizparlamentarierinnen und ehrenamtliche Aktivisten sind dadurch zwangsläufig überfordert. Und schliesslich wurden traditionelle und öffentlich-rechtliche Medien sowie die Werbung vom Gesetz ausgenommen. So konnte kein Lobby-Widerstand aus diesen einflussreichen Branchen kommen. Durch die fehlenden Lobbyisten fehlte den Politikerinnen im Parlament das Expertenwissen, um das Problem frühzeitig zu erkennen.

Hat denn in der Vernehmlassung niemand reagiert?
Man hat versucht, das Ganze unter dem Radar zu halten. In der Vernehmlassung wurden Plattformanbieter wie Youtube gar nicht erst eingeladen. Es wurde auch nur ein einziger digitaler Fachverband berücksichtigt. Die Digitale Gesellschaft – immerhin die schweizerische Dachorganisation für netzpolitische Themen – wurde nicht einmal informiert.
 

Ständerat Matthias Michel, der das Gesetz mitgeprägt hat, sagte dem «Tages-Anzeiger», dass noch gar nicht feststeht, wie der Jugendschutz technisch umgesetzt wird. Entsprechend wäre es verfrüht, von einer Ausweispflicht zu reden. Wie stehen Sie dazu? 
Ich frage mich, ob ein solcher Politiker inkompetent ist oder Desinformation verbreitet. Ein Blick in das Gesetz gibt Aufschluss. Dort heisst es, dass die Plattformanbieter ein System zur Alterskontrolle vor der ersten Nutzung einrichten und betreiben müssen. Der Bundesrat hat klargestellt, dass die Alterskontrolle mit Ausweisen stattfinden soll. Was logisch ist, denn es gibt heute keine anderen Möglichkeiten, das Alter wirksam zu kontrollieren.

«Die E-ID ist notwendig, um die Probleme zu lösen.»

Die Operation Libero hat eine Alternative vorgeschlagen. Die Plattformanbieter sollen nur die nötigsten Informationen ein vom Bund bewilligtes System erhalten. Was halten Sie davon? 
Das ist die richtige Stossrichtung. Es geht letztlich um die elektronische Identität (E-ID), die es in einigen Jahren in der Schweiz sowieso geben wird. Dann wird es möglich sein, Altersgrenzen zu prüfen, ohne dass weitere Daten geliefert werden müssen. Dennoch wäre es immer noch unverhältnismässig, für beliebige Inhalte eine Alterskontrolle durchzuführen. Das vorliegende Gesetz ist auch in einigen anderen Punkten anpassungsbedürftig. Die kommende E-ID ist notwendig, um die Probleme zu lösen, allein aber nicht hinreichend.
 

Pascal Fouquet und andere Netzaktivisten sammeln noch bis zum 19. Januar Unterschriften für ein Referendum gegen das Gesetz. Was passiert, wenn die notwendigen Unterschriften nicht zusammenkommen?
Dann tritt das Gesetz in Kraft. Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt. Er könnte immerhin festlegen, dass das Gesetz erst vollständig in Kraft tritt, wenn wir die elektronische Identität haben. So könnten wir das Datenproblem bei den Alterskontrollen lösen. 
 

Und wenn das Gesetz einmal in Kraft ist? 
In diesem Fall müsste man im Parlament eine Revision anstossen. Die entdeckten Fehler müssten korrigiert werden. Eine Volksinitiative wäre auch möglich. Dafür müssten 100’000 Unterschriften gesammelt werden. Allenfalls könnte man das Gesetz auf dem Rechtsweg angreifen und es in Einzelfällen überprüfen lassen. Aber das alles würde Jahre dauern.

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