Von ihnen fehlt bis heute jede Spur. Am 23. August 2017 verschüttete der Bergsturz von Bondo acht Berggänger. Seither kämpfen die Angehörigen der Opfer für eine faire juristische Aufarbeitung, die sechseinhalb Jahre nach der Tragödie immer noch am Anfang steht. 

Doch das ändert sich jetzt: Die Bündner Staatsanwaltschaft eröffnet eine Strafuntersuchung «wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung», wie aus einem Schreiben der Staatsanwaltschaft an die Anwälte der Angehörigen und Beschuldigten hervorgeht. 

Der unmittelbare Auslöser für die Entscheidung, den Fall nochmals komplett aufzurollen, ist das neue Gutachten des Westschweizer Geologen Thierry Oppikofer, verfasst im Auftrag der Staatsanwaltschaft. Der Beobachter hatte über das brisante 60-seitige Dokument vor Weihnachten berichtet. Darin kommt Oppikofer zum Schluss, dass sich der Bergsturz «durch zahlreiche Vorboten angekündigt» hatte. Das Risiko für Todesfälle sei «inakzeptabel» gewesen, deshalb hätten die Wanderwege gesperrt werden müssen. 

Dieses Gutachten hatten sich die Angehörigen in den letzten Jahren mühsam vor Gericht erkämpft – mit dem öffentlichen Druck des Beobachters, der mehrfach über die Alarmzeichen vor dem Bergsturz berichtete und renommierte Fachleute zu Wort kommen liess, die ein unabhängiges Gutachten forderten. 

Verfahren gegen fünf Beschuldigte eröffnet

Noch im Juni 2019 hatte die Staatsanwaltschaft eine erste Strafuntersuchung eingestellt – mit der Zustimmung des Bündner Kantonsgerichts. Die damalige Begründung: Niemand treffe eine Schuld, der Bergsturz sei nicht vorhersehbar gewesen. Doch das Bundesgericht rügte die Bündner Justiz Anfang Februar 2021 und verlangte weitere Abklärungen.

Jetzt hat die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung gegen insgesamt fünf beschuldigte Personen eröffnet. Betroffen sind zwei Mitarbeiter des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) sowie ein externer Geologe. Sie alle waren involviert bei der Gefahrenbeurteilung vor dem Bergsturz. Das AWN empfahl der Gemeinde zwei Wochen vor der Katastrophe, die Wanderwege offenzulassen. 

Als Beschuldigte aufgeführt sind auch zwei Vertreter der Gemeinde Bregaglia, darunter die damalige Gemeindepräsidentin und heutige FDP-Nationalrätin Anna Giacometti. Auf Anfrage wollte sie keine Stellung zur erneuten Strafuntersuchung nehmen. Alle anderen Beschuldigten wollten sich in der Vergangenheit nicht zum Verfahren äussern. 

Bis vor einer Woche hatten alle Parteien die Möglichkeit, Stellung zum Gutachten des unabhängigen Geologen Thierry Oppikofer zu nehmen. Dabei kritisierten die beiden im Verfahren involvierten AWN-Fachleute und der externe Geologe das Gutachten und verlangten, dass das Verfahren eingestellt werde. Doch die Staatsanwaltschaft hat «gestützt auf das Gutachten und in Berücksichtigung dieser Stellungnahmen» entschieden, das Strafverfahren zu eröffnen.  

Als Nächstes will der zuständige Staatsanwalt alle Beschuldigten «zur Sache und zur Person» befragen. Dafür seien «zwei Tage vorgesehen», wie es in seiner Eröffnung der Strafuntersuchung heisst. Auf Anfrage wollte sich der Staatsanwalt nicht dazu äussern, bis wann er darüber entscheidet, ob er Anklage erhebt oder das Verfahren erneut einstellt. Zuerst müssten die Termine für die Befragungen gefunden werden.

Amtschef äussert sich zum Strafverfahren

Am Mittwoch reagierte der Kanton Graubünden auf die Fortsetzung des Strafverfahrens. In einer Medienmitteilung schreibt Urban Maissen, Leiter des Amts für Wald und Naturgefahren (AWN): «Die Folgen des Bergsturzes sind sowohl für die Angehörigen der acht Todesopfer wie auch für die betroffenen Mitarbeitenden belastend. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen, die beim Bergsturz ihre Familienangehörigen verloren haben.»

Weiter heisst es in der Mitteilung, die kantonale Verwaltung habe grosses Interesse, dass das Verfahren rasch vorangetrieben werde und für alle Betroffenen Klarheit geschaffen werden könne. Dazu werde sie mit der dafür notwendigen Unterstützung beitragen.