Die Bundesverfassung gehört zum symbolischen Inventar der Schweiz wie das Réduit oder das Rütli. Alle kennen sie, aber die wenigsten sind mit ihr vertraut. Das ist für zwei Männer aus Genf und Zürich ein Problem. Sie wollen eine Diskussion anstossen und die Verfassung totalrevidieren.

Michel Huissoud, der ehemalige Chef der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK), und Daniel Graf, erfolgreicher Politcampaigner und Demokratieaktivist, wollen erreichen, was vor ihnen niemandem gelang: mit einer Volksinitiative die Totalrevision der Bundesverfassung anstossen.

Einen Anlauf gab es zwar, doch das Anliegen scheiterte 1935 mit 72,3 Prozent Neinstimmen der Männer krachend. Der Absender der Initiative damals: die faschistische Frontenbewegung, der Schweizer Ableger der NSDAP. Sie wollte das politische System umkrempeln.

Was bezwecken Huissoud und Graf mit ihrem Projekt? Wir treffen sie zu einem Gespräch in einem Berner Café an der Aare. Der Genfer hatte es vorgeschlagen – man habe von dort unten einen «unverbrauchten» Blick auf das Bundeshaus.

Ein Ex-Anarchist und ein Politstratege
Michel Huissoud
Daniel Graf

Michel Huissoud, Daniel Graf, wollen Sie die Schweiz auf den Kopf stellen?
Graf: Ich hätte eher gesagt: auf die Füsse. Ein Problem unserer Demokratie ist, dass sie uns zwar in den Köpfen steckt, aber im Alltag selten begegnet. Oder wann haben Sie zuletzt in der Bundesverfassung geblättert? Indem wir dieses Jahrhundertprojekt starten – unser Arbeitstitel lautet «Update Schweiz» –, geben wir den Menschen die Chance, sich aufs Neue mit der Demokratie auseinanderzusetzen.


Ein Ex-Finanzprüfer und ein Aktivist – wie passen Sie beide zusammen?
Huissoud: Ich komme von der technokratischen Seite und kenne das bundespolitische System von innen. Daniel Graf hat Erfahrung damit, Veränderungsprozesse von aussen anzuschieben. Wir ergänzen uns perfekt.


Hat die Schweiz wirklich ein Demokratieproblem?
Huissoud: Als Leiter der Finanzkontrolle habe ich Jahr für Jahr über Mängel in der Schweizer Verwaltung berichtet. Insbesondere in Bereichen der Digitalisierung gibt es grobe Defizite. Ein Problem ist die Verteilung der Kompetenzen, wie die EFK wiederholt aufgezeigt hat. Der Bund ignoriert das Problem. Er ist zum Teil besser über seine Beziehungen zu Mexiko informiert als über die Beziehung seiner Bundesämter zum Wallis. Mein Fazit: Die Bundesverfassung muss renoviert werden.


Was ist denn so schlecht an der aktuellen Bundesverfassung?
Huissoud: Sie ist nicht schlecht, aber etwas eingerostet. Als die Schweiz im Jahr 1999 über die letzte Totalrevision abstimmte, steckte das Internet noch in den Kinderschuhen. Es gab keine Smartphones, die Leute telefonierten mit dem Nokia. Die Gesellschaft hat sich seither tiefgreifend verändert.
Graf: Ausserdem war die letzte Totalrevision rückwärtsgerichtet. Es war ein Top-down-Prozess, angestossen in den 1960er-Jahren, ausgearbeitet von einer Expertenkommission. Die Bundesverfassung steht auf der obersten Stufe unseres Rechtssystems, sie ist sozusagen das Betriebssystem unserer Gesellschaft. Wir möchten, dass alle daran mitschreiben können.

«Ich erhalte regelmässig Nachrichten von Leuten, die etwas bewegen wollen. Doch für Volksinitiativen fehlen vielen die Energie und das Geld.»

Daniel Graf

Welche Änderungen schlagen Sie vor?
Huissoud: Wir wollen nicht mit klaren Lösungen vorpreschen, dies ist kein Alleingang. Aber wir können auf mehrere Baustellen hinweisen. Die Gesundheitspolitik ist so eine, das haben wir in der Pandemie gesehen. Es ergibt offenkundig keinen Sinn, dass jeder Kanton seine eigene Gesundheitspolitik unterhält.


Der Föderalismus gehört zu den Grundpfeilern der Bundesverfassung. Die Kantone sind souverän.
Huissoud: Ich bin kein Freund der Zentralisierung. Aber eine Harmonisierung täte vielerorts gut.


Die Stimmbeteiligung bei der Totalrevision von 1999 lag bei 35,9 Prozent. Es ist ein sperriges Thema. Wer soll bei diesem Monsterprozess mitmachen?
Graf: Ich erhalte regelmässig Nachrichten von Leuten, die etwas bewegen wollen. Doch für Volksinitiativen fehlen vielen die Energie und das Geld, zumal die Politik manche Themen lieber nicht anpackt, aus Angst, sich die Finger zu verbrennen. Mir schreibt öfter ein älterer Herr, der sich für aktive ärztliche Sterbehilfe einsetzen möchte. Ein umstrittenes Thema, bei dem er mitbestimmen will.


Wie soll diese kollektive Arbeit an der neuen Bundesverfassung aussehen?
Graf: Bereits vor der Phase der Unterschriftensammlung werden wir Treffen von Bürgerinnen und Bürgern in verschiedenen Städten und auf Onlineplattformen dazu nutzen, um über mögliche Inhalte einer zeitgemässen Verfassung zu sprechen. Der Start dafür ist am 12. September. Wenn es uns gelingt, dieses Gespräch über die Zukunft der Schweiz mit möglichst vielen Menschen zu führen, werden wir auch die nötigen 100'000 Unterschriften zusammenkriegen. Bei einem Ja würden Parlament und Bundesrat neu gewählt. Dank einer Besonderheit der Totalrevision haben wir gute Chancen, an der Urne zu gewinnen.

«Der neue Verfassungstext verlangt die Mehrheit von Volk und Ständen.»

Michel Huissoud

Welche Besonderheit?
Graf: Für die Vorabstimmung über den Grundsatzentscheid zur Durchführung einer Totalrevision braucht es nur ein einfaches Volksmehr. Ohne die Notwendigkeit des Ständemehrs haben wir bessere Karten für ein Ja. Dieses Projekt ist kein Demokratieexperiment, sondern total ernst gemeint. Es ist ein Gamechanger.


Und nach dem Revisionsprozess wird noch einmal abgestimmt?
Huissoud: Richtig, der neue Verfassungstext verlangt die Mehrheit von Volk und Ständen, wie wir das von Volksinitiativen kennen.


Die Parteien werden Ihr Projekt als Provokation auffassen.
Huissoud: Das Parlament soll die neue Bundesverfassung ausarbeiten, darum sind Neuwahlen vorgesehen. Es sollten Politikerinnen und Politiker sein, die der Sache wohlgesinnt sind. Doch die Bürgerinnen und Bürger stehen nicht nur am Spielfeldrand und schauen zu.


Sondern?
Graf: Die Pandemie hat uns neue Möglichkeiten vor Augen geführt, kollektive Debatten mit digitalen Mitteln zu führen. Während des Vernehmlassungsverfahrens sollen sich die Bürgerinnen und Bürger beteiligen können, mit Vorschlägen, konsultativen Befragungen oder digitalen Abstimmungen.
Huissoud: Für die Umsetzung können wir uns auch an Vorbildern in den Kantonen orientieren. Im Wallis wird aktuell die Kantonsverfassung totalrevidiert, Auslöser war ebenfalls eine Initiative.


Die Corona-Pandemie hat auch neue Konfliktlinien zutage gefördert. Was, wenn die Neusortierung im Chaos endet?
Graf: Wir sehen dieses Projekt als Chance, Menschen wieder zusammenzubringen. Im Ausland wird man uns um diese Werkstatt der direkten Demokratie beneiden.
Huissoud: Gerade nach dieser Pandemie erscheint es mir wichtig, daraus zu lernen. In mancher Hinsicht zeigte sich, dass die Schweiz nicht für den Notfall gewappnet ist. Es gab kritische Berichte zu den Prozessen, doch die sind mehrheitlich stillschweigend in den Schubladen verschwunden. Die Politik hat die Augen auf die Wahlen gerichtet, das Credo lautet: zurück zur Normalität. Was fehlt, ist ein gemeinsames Projekt.


Wenn Sie heute einen Artikel in die Bundesverfassung schreiben könnten, wie lautete der?
Graf: Es wäre ein Demokratieartikel. Er bestimmt, dass wir die Demokratie regelmässig pflegen und weiterentwickeln.

Als die Schweiz eine Verfassung bekam

2023 wird die Schweizer Bundesverfassung 175 Jahre alt. Aus dem lockeren Schweizer Staatenbund wurde am 12. September 1848 ein Bundesstaat und die erste Demokratie Europas. Zuvor hatte eine Kommission aus Kantonsvertretern in nur 51 Tagen das Verfassungswerk der neuen Schweiz ausgearbeitet. Geprägt war es von der Verfassung der USA (Zweikammersystem) und vom Gedankengut der Französischen Revolution (Bürgerrechte). Die letzte Totalrevision fand im Jahr 1999 statt. In Artikel 138 ist festgehalten, wie via Volksinitiative eine Totalrevision angestossen werden kann.

Tipp: Veranstaltungen zum Geburtstag der Bundesverfassung finden Sie auf www.1848-parl.ch.