Die Hälfte der 170 untersuchten Demokratien ist zunehmend gefährdet. So lautet das nüchterne Ergebnis einer aktuellen Demokratiestudie von der Agentur International Idea. Schuld daran seien nicht nur Menschenrechtsverstösse – etwa der anhaltende Russlandkrieg oder die Unterdrückung der Menschen in Myanmar. Auch andere Faktoren wie der Klimawandel verschlimmerten die Lage in vielen Ländern. 

Nicht so in der Schweiz. Sie sei eine der stabilsten Demokratien weltweit. Herausragend sei etwa die Stellung der Volksrechte und der direkten Demokratie. Die Schweiz biete zudem einen exzellenten Zugang zur Justiz und stelle die Freiheitsrechte ihrer Bevölkerung sicher. Einzig in einem Punkt liegt sie gemäss Index weit unter dem Durchschnitt. 

Geringe Wahlbeteiligung durch Volksabstimmungen

Und zwar bei der Wahlbeteiligung. 2019 gingen nur knapp über 45 Prozent der Stimmberechtigten zu den Parlamentswahlen. Zum Vergleich: In Schweden wählten ab 1960 immer weit über 80 Prozent ihre Parlamente. 

Für Sandro Lüscher überrascht der Befund wenig. Der Politikwissenschaftler der Universität Zürich sagt: «Die Schweiz kämpft schon lange mit einer tiefen Wahlbeteiligung. Und zwar auf allen Ebenen – regional, kantonal und auf Bundesebene.» 

Das Volk hat viel politische Macht. Alleine im Jahr 2021 stimmte die Bevölkerung bei 13 Referenden ab. «Die Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, ihre Interessen bei spezifischen Abstimmungen zu äussern. Gemäss einiger Studien senkt das die übrige Wahlbeteiligung», sagt Lüscher. 

Die tiefe Wahlbeteiligung ist problematisch. Lüscher sagt: «Natürlich ist das ein Missstand.» Momentan gäbe es eine superpolitische Minderheit, die sich an allen Wahlprozessen beteiligt. Sie sei männlich, betagt, vermögend, gut gebildet – und nicht repräsentativ. Eine höhere Wahlbeteiligung würde die Bevölkerung besser abbilden und somit die Schweizer Demokratie stärken.  

Demokratie-Index ignoriert Menschen ohne roten Pass 

Doch es gibt ein weiteres Problem. Der Demokratie-Index von International Idea lässt die politische Mitbestimmung von Ausländerinnen und Ausländern ausser Acht. 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind von nationalen Wahlen und Abstimmungen ausgeschlossen. Als Zugezogene besitzen sie keinen Pass. Damit würden bei einer Wahl- und Stimmbeteiligung von 100 Prozent trotzdem nur 75 Prozent der Bevölkerung abgebildet. 

Auch das kantonale Mitspracherecht für Ausländerinnen und Ausländer ist begrenzt. Neben den französischsprachigen Kantonen sehen allenfalls noch Basel-Stadt, Graubünden und Appenzell-Ausserhoden eine eingeschränkte Mitbestimmung vor. Dass der Index 25 Prozent der Bevölkerung bei den Mitbestimmungsrechten auslässt, ist für Sandro Lüscher ein grosses Defizit. «Es hat mich überrascht, dass die Variable nicht einbezogen wurde. Wenn es darum geht, die Demokratie zu bewerten, gehört die Partizipation von Ausländerinnen und Ausländern beachtet», kritisiert er. Politische Inklusion sei essenziell, um den Menschen ein Gefühl der Verantwortung und der politischen Souveränität zu geben.

Schweden oder Finnland als Vorbild nehmen

Die Schweiz würde bei so einer Bewertung schlecht abschneiden. Zu dem Ergebnis kommt der von der Universität Luzern entwickelte «Immigrant Inclusion Index» (IMIX). Er misst die politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten von Ausländerinnen und Ausländern in 21 etablierten Demokratien. 

Demnach haben Ausländerinnen und Ausländer in Schweden mit Abstand am meisten partizipatorische Rechte, gefolgt von Finnland und den Niederlanden. Die Schweiz belegt dagegen nur den vorletzten Platz. Die Daten für den IMIX stammen zwar aus dem Jahr 2010. Seitdem gab es in der Schweiz aber nur geringfügige Besserung auf kantonaler Ebene. 

Um mehr Menschen politisch einzubeziehen, könnte sich die Schweiz etwa ein Beispiel an Schweden oder Finnland nehmen. Dort können ausländische Personen auf lokaler Ebene wählen, wenn sie bereits einige Jahre im Land wohnhaft sind. Auch für Sandro Lüscher sind mehr Beteiligungsrechte für Ausländerinnen und Ausländer sinnvoll: «Sie fördern die Integration und aus bisherigen Erfahrungen und Studien gibt es keine Evidenz dafür, dass politische Entscheide unter Mitwirkung von Minderheiten schlechter werden.»

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